Hallo Berlin? Hallo Welt? Hört mich wer? Es reicht! Wirklich und ganz ehrlich. Weiße Fahne. Rien ne va plus. Nix geht mehr. Wir haben zehn Wochen Lockdown in den Knochen. Und ich fühle mich, als müsste ich mindestens genauso lange Urlaub machen. Allein mit meiner Frau wohlgemerkt. In einem Luxusressort in Palm Springs, nur am Pool liegen, mit kaltem Bier in der Hand. Jeden Tag. Verbunden mit der Hoffnung, der Akku füllt sich wenigstens bis zur Hälfte. Würde uns schon helfen. Zehn Wochen ohne Schule, zehn Wochen ohne Kindergarten, zehn Wochen ohne Hort. Beide Elternteile im kompletten Erwerbsarbeitsmodus. Im Wechsel Home-Office und Real-Office. Heiliges Kanonenrohr! Wir leben in Hessen. Wir hätten beide Kinder auch schicken können. Aber wir sagten in treuem Glauben „Wir schaffen das!“. Wie die Kanzlerin.
Wir wollten unseren Teil beitragen. Unnötige Wege vermeiden, Kontaktdichte reduzieren. Wir waren voller Idealismus und Überzeugung. Ich bin zwar kein Experte, aber ich finde, dass Solidarität nach wie vor eine dufte Sache ist und ich gehe weiterhin davon aus, dass wir es mit den Massenansammlungen nicht übertreiben sollten. Außerdem hat uns doch die Kanzlerin freundlich gebeten. Überhaupt werde ich nicht müde zu sagen: Es hätte uns im Leben schlimmer treffen können. Syrien, Afrika, remember Krieg, Hunger. So richtig ernsthafte Nöte eben. Ein bisschen Einschränkung und Verzicht, das steht uns auch in der Komfortzone mal ganz gut. Also Bruno und Hanni, bleibt mal schön zuhause. „Wir schaffen das!“ Die Magischen Worte der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise. Es waren die Unsren. Das Corona-Motto der Familie Meidhof-Russmann. Mitten in der zweiten Welle der Pandemie. Jetzt hängt sie da, die weiße Fahne!
Um es klar zu stellen: Das hier ist immer noch Jammern auf hohem Niveau und ich will ja gar nicht so viel Schimpfen und Stöhnen. Wir haben keine existentiellen Ängste. Es geht nur leider auch bei mir nicht mehr anders. Trotz all der Unterstützung von Großeltern und Freunden. Die völlige Entgrenzung zwischen privat und beruflich hat sich hier in allen Zellen eingenistet. In der Früh um sechs fahre ich bereits den Rechner hoch, um wenigstens die Zeit, bis Bruno die Bettwurst aus dem Genick rollt, nutzen zu können. Meine Frau beantwortet abends um halb zehn noch Anfragen von den Eltern ihrer Schülerschaft, während ich zeitgleich schon einmal die beruflichen Mails für den morgigen Tag vorbereitete. So. Gute Nacht dann auch. Haben wir heute noch was zu besprechen? Kann man alles so machen. Auf Dauer aber kein tragfähiger Zustand. So ganz unter uns. Wir sind keine Geschäftsführer eines Unternehmens. Wir sind schlichtweg verheiratet und nur angestellt.
Wenn am Montag beide wieder das Haus in Richtung Kindergarten und Schule verlassen, weine ich ein bisschen. Vor Glück. Es ist der erste Hauch einer Routine, die wieder einkehrt. Meine stille Hoffnung. Hanni und Bruno können da nichts für. Sie machten und taten, was Kinder halt so müssen. Die wenigsten Kinder rufen in der Regel „Her mit den Hausaufgaben, ich will die ganz kniffligen davon heute noch abarbeiten und keine Folge Miraculous glotzen“. Und kein Vierjähriger bastelt fünf Stunden am Stück leise vor sich hin und summt dazu ganz still fröhliche Wanderlieder. Kinder, die das machen, stehen unter Drogen. Oder bekamen eine knackige Gehirnwäsche. Behaupte ich. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen und mich bei Hanni und Bruno entschuldigen! In aller Form. Für mein lautes Brüllen mindestens zweimal am Tag, für das verzweifelte Pullover und Gegenstände quer durchs Haus werfen. Ich war nicht ich selbst und in etlichen Situationen am Rande der Belastbarkeit. Denn auch von mir nochmal an alle, die es noch nicht verstanden haben und für das Oberschenkel-Tattoo: Home-Office ist nicht gleich Home-Office.
Es stand überall. In den Feuilletons, bestimmt in der Brigitte und vielleicht sogar im Kicker. Aber es muss auch hier nochmal raus. Ich schreibe es mir nur aus dem Leib und dem Hirn. Home-Office allein zu Haus’ und Home-Office mit Kindern im Alter von Vier und Acht sind zwei völlig andere Welten. Wie rhythmische Sportgymnastik und Boxen. Zweimal Sport und doch ganz anders. Home-Schooling und gleichzeitig Home-Office plus Home-Entertainment ist mit dieser Altersgruppe so, als wolle man mit acht GinTonic im Schädel einen Aufnahmetest in Harvard bestehen. Kapiert? Nicht machbar! Ich sagte „Bruno, ich brauche noch zehn Minuten in dieser Konferenz! Erzähle es mir dann!“, stand er eine Minute später vor mir und fragte „Sind jetzt zehn Minuten rum?“. „Entschuldigen Sie bitte, ich muss mich mal eben kurz um meinen Sohn kümmern.“
Ich will mich nicht in Schoten aus dem Home-Office verlieren, die gibt es seit Corona genug in der viralen Rotation. Nur so viel. Ich war kurz davor, meinen Job an den Nagel zu hängen. Mehrfach habe ich im Kopf durchgerechnet wie lange das Ersparte uns tragen könnte. Eine einzige gottverfluchte Mail wollte ich manchmal nur fertigschreiben. Es war nicht möglich. Weil Hanni parallel beim Gehirnjogging die Nerven verlor. Selbst ich kapiere mittlerweile nicht mehr jede Aufgabe. Völlige Überforderung, wohin ich auch schau. Manchmal nahm Hanni schon mal Gespräche über MS-Teams an oder war stiller Gast bei meinen Konferenzen. So als moralische Unterstützung. Von der ich nur nichts wusste, bis ich sie plötzlich hinter mir sitzend entdeckte und mich beobachten sah. „Was machst Du denn hier? Und wie lange sitzt Du eigentlich schon da?“. Ach Gott, auch schon völlig egal.
Hallo Welt! Hallo Berlin! Ihr mutet uns Familien ordentlich was zu. Das muss ich euch ins Stammbuch schreiben. Ich weiß, wir haben alle keine Erfahrung mit Pandemien und wir haben Vieles gestützt, was ihr an Regeln so aufgestellt habt. Wir sind als Familie noch beisammen und haben uns gegenseitig keine körperlichen Verletzungen zugeführt. Das ist während Corona ein nicht zu unterschätzender Erfolg. Aber bitte lernt was draus. Ja? Überlegt euch ab sofort schlaue Modelle, wie wir solche Herausforderungen auch lösen können, ohne dass wir bleibende Schäden bekommen. Die Infektion vermieden, dafür geschieden und die Einrichtung zertrümmert. Da hilft auch der Kindergeldbonus nicht mehr.
Bruno und ich hören: The Loved Ones „Build & Burn“ (Fat Wreck Chords)