© Ralph Rußmann
Ralphs Corner_#8 Neue Wege
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Gestern habe ich Auszüge aus einem Interview mit Jesper Juul gelesen. Daraufhin habe ich mich entschlossen, heute früh einen neuen Weg auszuprobieren. Jesper Juul ist – für alle, die es nicht wissen – ein fröhlich aussehender Pädagoge und Familientherapeut aus Dänemark, der vor allem einen sehr schönen Blick auf Kinder und vor allem die Erziehung hat. Einer seiner Ansätze ist – soweit ich ihn verstanden habe – dass Kinder in nahezu jeder Situation eigentlich kooperieren wollen. Wir Erwachsenen müssen nur kapieren, was die Hintergründe für die sichtbaren Verhaltensweisen sind. Rastet beispielsweise der Sohnemann aus, weil er unbedingt noch mehr Nachspeise essen will und haut dir die Schüssel an den Kopf, dann ist möglicherweise der Grund, dass er gerne gemeinsam mit Dir mehr Zeit am Esstisch verbringen will. Oder so ähnlich. Zumindest habe ich es ungefähr so begriffen, als es mir meine Frau erklärte. Die hat nämlich Jesper Juul ganz gelesen. Im Gegensatz zu mir. Obwohl meine Frau mich mehrfach darum gebeten hat und sie sich gerne mit mir darüber unterhalten möchte. Ich bin auch guten Willens, schließlich haben Juul und ich fast eine ähnliche Profession. Aber dann sitz ich in der Mittagspause am Tisch und plötzlich liegt dann neben mir das neue 11 Freunde oder ein Musikmagazin und schwuppdiwupp ist Bruno wieder wach. Mist, ich bin erneut nicht dazu gekommen. Blöd und dumm gelaufen. Ich mag aber den Ansatz. Er ist mir sehr sympathisch.
Okay, sinnierte ich von daher vor mich hin, ein Interview ist kurz und knackig, da fasst Juul seine wichtigsten Thesen gut zusammen, das schaff ich bestimmt und kann dann schön glänzen. Außerdem hieß die Überschrift „Väter haben keine Ahnung, was es heißt, Mutter zu sein“. Da machte es einmal mehr DingDong in meiner Birne. Denn wenn einer versteht, was es heißt Mutter zu sein, dann doch wohl ich. Ich mach ja den ganzen Tag nichts anderes, als das, was die Mutter im Normalfall tut. Da habe ich doch sogar einen Wettbewerbsvorteil beim Lesen. In dem Gespräch sagt Juul an einer Stelle, dass seine Erleuchtung eine Szene mit seinem damals knapp 3-jährigen Sohn war, als er ihm einen übelst langen Vortrag über gutes Benehmen hielt, woraufhin der Sohn ihm mit finster-entschlossenem Blick brüllend entgegnete „Halt einfach die Klappe und hör auf!“. Meine Tochter hat auch oft sehr viel Wut, brüllt ganz gerne und da dachte ich bei mir „Hola, jetzt aufpassen beim Lesen, was macht wohl da der Jesper Juul.“ Juul empfiehlt hier die Frage „Nun, da Du wütend wirst, kann ich sehen, dass das wichtiger für Dich ist, als ich dachte, bitte erkläre mir, warum…“ Das fand ich eine gute Frage, merkte sie mir, schaute eine Folge Sons Of Anarchy und ging ins Bett.
Die Nacht war hart. Denn mein Sohn hat gerade den schlimmsten Schnupfen seines noch jungen Lebens. Selbst der Zwiebelsack (siehe hier auch #5) lindert nur, löst das Problem aber nicht. Bruno und ich testeten alle Positionen, jede hielt allerdings mit gutem Willen nur 45 Minuten. Entsprechend entspannt war ich in der Früh. Meine Frau hatte eine Stunde später Schulbeginn, so dass sie das Spektakel am Morgen einmal in ganzer Bandbreite verfolgen konnte. Ich versuchte geschätzte 15 Minuten lang meine Tochter mit steten „Hanni… Hanni?... Hanni!“-Rufen zu wecken. Wie ein Mantra. Nur komplett erfolglos. Ich prüfte kurz, ob sie noch lebte. Tat sie, leise und zufrieden schnarchend. Dann wurde ich lauter. Es war kurz vor acht. Meine Tochter wachte irgendwann auf. Sehr übellaunig und ohne Anstalten zu machen in die Senkrechte zu gehen.
Meine Tochter will in der Regel immer in den Kindergarten. Ich glaube sie hat Sorge, sie könne was verpassen. Klatsch, Tratsch, neue Bügelperlen, was weiß ich. Doch auch meine Ansage, wenn sie jetzt nicht aufstehe, könne sie nicht in den Kindergarten, lies keine körperliche Reaktion folgen. Eher noch größere Übellaunigkeit. Ganz nach dem Motto „Dusch mich, aber mach mich nicht nass“. Sie will dahin, aber dass ich sie dafür wecken muss, völlige Unverschämtheit! Da kam mein Jesper Juul-Moment und ich fragte sie „Hanni, ich erkenne Deine Wut und merke, dass es Dir gerade sehr wichtig ist, im Bett zu bleiben, dabei aber gleichzeitig in den Kindergarten zu wollen, kannst Du mir erklären, warum das so ist?“ Ok. Schlechte Rahmenbedingung. Nicht der ideale Moment. Aber ich versuche es. Und bekomme völlige Entrüstung zurück! „Du kapierst es nicht, Du kapierst es heute nicht, Du hast es gestern nicht kapiert und Du hast es vorgestern nicht kapiert“. Nur am Rande: Wir hatten gestern an keiner Stelle dieses Thema. Und vorgestern schon mal überhaupt nicht. Ich wiederholte meine Frage, zugewandt, ruhig und freundlich. Die gleiche Antwort, noch bissiger. Nach dem dritten Anlauf wurde meine Tochter noch hitziger und da riss mir Hutschnur. Ich zog sie vom Hochbett und donnerte sie unter lautem Getöse und großem Geschrei mit gleichem Schwung auf die Toilette. Woraufhin meine Frau mit spöttischem Seitenblick kommentierte „Na das läuft ja richtig gut, Jesper Juul!“. Doch jetzt kommt das Erstaunliche: Von da an brummte der Laden wirklich komplett reibungslos. Meine Tochter war lammfromm und butterzart. Anziehen, Flechten, ich hätte eine TV-Doku über kooperierende Kinder drehen können. Was ist jetzt aber nur die Moral von der Geschichte? Ich glaube fest an Jesper Juul und seinen Ansatz. In jeglicher Hinsicht bleibe ich am Ball. Aber es ist doch immer wieder überraschend, wie scheinbar überholte Old-School-Pädagogik bei Zeitknappheit zum schnellen Erfolg führt.
Bruno und ich hören: Pascow „Nächster Halt gefliester Boden“ (Broken Silence) und dazu noch die neue wunderbare Single von Gisbert Zu Knyphausen „Das Licht dieser Welt“ (K&F Records)