Es kümmert ihn einen einfach feuchten Kehricht. Wirklich. Es juckt ihn null die Bohne. Das ist das Kernproblem. Aber schon wieder ist eine Kappe weg. Er weiß von nichts. Sie wäre ganz sicher im Schulranzen. Da ist sie allerdings nicht. Was uns jetzt wiederum nicht überrascht. Er hätte sie jedoch da rein. Zu hundert Prozent. Er wüsste jetzt auch nicht, wie sie rausgekommen sei.
Wir intervenieren gleich, ehe er den schlanken Fuß in sein Zimmer macht. Wir erklären ihm, dass er – unserem Ermessen nach – der Einzige ist, der zu diesem erneuten Verlust Auskunft geben könnte. Denn vom Verlassen des Hauses heute in der Früh um 7.30 Uhr bis zur Rückkehr am Nachmittag aus dem Hort, war er die einzige Person, die dauerhaft Zugriff auf diese Kappe gehabt hätte. Spätestens dann wird er sauer und unleidlich. Wohl als Reaktion, weil er sich in die Ecke gedrängt fühlt und unserem beständigen und nachhaltigen Fragen nicht mehr standhalten kann. Aber wir lassen ihn nicht aus der Klammer. In dieser Sache ziehen meine Frau und ich an einem Strang! Da macht uns keiner was vor.
Es ist kein Verhör, doch es geht schon stark in diese Richtung, Ich habe hier von unserer Arbeitsjuristin gelernt. Eindeutige Ja/ Nein-Fragen. „Hast Du die Kappe in den Ranzen gepackt? Ja oder Nein?“ Oder so ähnlich. Die Verhöre führen allerdings zu keinem nennenswerten Erfolg. Seit mein Sohn an mindestens zwei Tagen in der Woche einen wichtigen Artikel in der Schule oder im Hort vergisst, hat das regionale Sprichwort „Das ist fott, wie dem Bu soi Kapp“ für uns eine neue Bedeutung bekommen. Für alle, denen dieser Dialekt fremd und unvertraut ist: „Die Sache ist verschwunden, wie die Mütze des Jungen.“ Gäbe es dieses Sprichwort nicht bereits, ich würde es jetzt zu Ehren meines Sohnes erfinden. Wenngleich ich zu Ehren in Anführungszeichen setze und wenn ich diesen Text jemals auf einer öffentlichen Bühne zum Besten geben sollte, dann würde ich bei „zu Ehren“ mit den Fingern jeweils zwei Anführungszeichen in der Luft andeuten.
Denn hier ist nichts zu Ehren. Im Gegenteil. Manche Kappen tauchen nach Wochen wieder auf – wenigstens nicht auf den Köpfen fremder Jungs, sondern wirklich in irgendeiner dieser Fundkisten. Andere bleiben verschollen oder finden sich vielleicht in anderen Stadtteilen wieder. Letzteres ist eine Vermutung. Schöne Kappen, besondere Kappen. Wie die „Thinking Cap“, die wir ihm in treuer Fanschaft zur Serie „Stranger Things“ gekauft haben. Und weil er mit dieser Mütze eine gewisse Ähnlichkeit zu einem der Hauptdarsteller dieser Serie hat. Auch die ist weg, wie dem „Bu soi Kapp“. In meiner Ohnmacht drohe ich ihm und hole mit dem „Wenn, dann“-Szenario aus. Klassiker never goes out of Style. Mir fällt in diesen Situationen schlichtweg auch nichts Besseres ein. Wohlwissend, dass ich damit keinen Gute-Eltern-Gedächtnis-Pokal gewinnen werde. Dennoch lege ich los: Wenn er noch einmal eine Kappe verliert, dann werden ab sofort nur noch Billo-Kappen auf den Schädel gezogen. Gegenwert dreieuroneunzig. Oder Werbekappen der hiesigen Volksbank oder des lokalen Getränkemarkts. Das geht so ja nicht weiter. Wir sind schließlich nicht bei Rockefellers. Doch wie gesagt: Es juckt ihn nicht.
Diese fehlende Verbindung zu Dingen und materiellen Werten zieht sich wie ein roter Faden durch sein noch junges Leben. Ich erinnere mich gerade. Und zitiere mich mal selbst. Wie ein erfolgsversessener Wissenschaftler. Oder ein schäbiger Sportreporter der Frankfurter Rundschau. Bereits im Nachruf zu Puppe Kalle entschuldigte ich ihn. Schmiss alle väterliche Nachsicht in einen Topf. „Er meinte es nicht so. Also Bruno, mein Sohn, meine ich. Er ist ein ganz feiner Kerl. Er hängt schlichtweg nicht ganz so an Dingen. Das kann durchaus auch einmal eine Stärke sein. „Kaputt? Entiuldigung! Macht nix, kann doch jedem ’mal passieren. Oder?“ Der Standardspruch nach jeder Zerstörung!” Damals die Zerstörung. Jetzt das Vergessen. Ich glaube, so lebt es sich leichter. Auch später mit den Frauen und der Liebe.
Gestern kam er plötzlich mit der orangefarbenen Carhartt-Wollmütze im Schlepptau zurück. Sie war ein ganzes Jahr verschollen, in keiner Fundkiste zu finden, wir hatten sie abgeschrieben. Er hat sie eh nicht vermisst. Bruno sagt, sie hätten ein paar Tische weggeschoben und hinter einem Schrank wurde sie dann von ihm entdeckt. Er weiß natürlich partout nicht, wie sie dahin kam, kann es sich nicht erklären. Jetzt ist sie wieder in unserem Besitz. „Da wie dem Bu soi Kapp“ will ich fast rufen. Nein. Nur fast. So weit ist es noch lange nicht. Vier weitere Mützen sind immer noch verschwunden. Mindestens.
Bruno und ich hören: Minor Threat „First Two Seven Inches” (Dischord)