Dieser Beitrag dreht sich um das Scheitern. Ausschließlich. Und zwar um ein glorreiches Scheitern. Ein Scheitern auf ganzer Linie. Scheitern de luxe also. Vielleicht die Mutter allen Scheiterns. Es ist das persönliche Eingeständnis, gescheitert zu sein. Die Situation vielleicht für gerade mal zehn Minuten zu Beginn noch unter Kontrolle gehabt und dann jeden Zugriff verloren zu haben. Furchtbar. Allein, wenn ich nur daran denke. Ein Offenbarungseid. Für alle Beteiligten. Nur ich hätte das Ruder in der Hand halten müssen. Deshalb hilft diese Perspektive nicht weiter. Ich war der Dirigent, dessen Orchester plötzlich machte, was es wollte. Ich war der Pilot, in dessen Flugzeug gesoffen, getanzt und geliebt wurde. Ohne Anschnallgurt. Ich war der Lehrer, dessen Schulklasse die Bilder beschmierte und dann komplett ins Museum kotzte. Ich hatte schlichtweg die Kontrolle verloren. Ich war – wie gesagt – gescheitert.
Was war passiert? Das Ereignis liegt bereits einige Monate zurück. Es war ein früher Herbstabend. Weder zu warm noch zu kalt. Ich kann es im Nachhinein also nicht aufs Wetter schieben. Es waren vielleicht sogar optimale Rahmenbedingungen. Ich schrieb lange nicht darüber. Möglicherweise, um es zu vergessen. Manchen erzählte ich nur davon. Wahrscheinlich, um es aufzuarbeiten, um damit leben zu können. Oder Verständnis entgegengebracht zu bekommen. Ein paar warme Worte. „Kenn ich. Habe ich auch schon erlebt. Mach Dir nichts daraus. Passiert den Besten“.
Einen Tag vorher rief mich Brunos Fußballtrainer an und fragte, ob ich das Training von Brunos Mannschaft übernehmen könnte. Ich warf einen Blick in meinen Terminkalender, verschob was von links nach rechts, stimmte zu und damit nahm das Unheil seinen Lauf. Ich trainierte die F-Jugend der SG Praunheim an einem Mittwochabend im Oktober. Es war das erste Mal und fragt mich heute jemand, dann sage ich, es war auch das letzte Mal. Was in diesem Training passierte, lässt mich immer noch rätselnd zurück. Ich habe so etwas in meinen gut 50 Lebensjahren selten erlebt. Ich bin seit über zehn Jahren Führungskraft und trage ein schönes Paket an Verantwortung im Beruf. Ich treffe Entscheidungen und spreche vor großen Runden. Die meisten Menschen nehmen mich ernst und wenn ich argumentiere, das machen wir jetzt besser mal nicht, hören sie auch darauf. Nur: Das alles war in diesem Training einen feuchten Furz wert.
Ich war wirklich guter Dinge und freute mich sogar darauf. Jüngste Erfolge gaben mir obendrein Rückenwind und beflügelten meinen Geist und Ehrgeiz im Vorfeld. Ich coachte nämlich – auch aushilfsweise – die Truppe vor geraumer Zeit, und dies sogar recht erfolgreich. Mit einem simplen Konzept und wiederkehrenden Mantras wie „spielt immer den einfachen Pass“ und „einer von euch läuft sich immer frei“, steuerte ich sie niederlagenfrei und mit nur einem Unentschieden durch ein Samstagsturnier. Ich gab dabei jedem der Jungs das Maß an Spielzeit, das der Mannschaft half und trotzdem niemanden leer ausgehen ließ. Schenkte sogar einem begabten Nachwuchsspieler sein Turnierdebüt, gab lautstark positive Motivationssprüche und klare Kommandos. Ich fühlte an diesem Tag, als sei Jürgen Klopp in mich gefahren. Da wird so ein einfaches Training doch wohl gelingen. Die Jungs werden mich sicher lieben, freudig in die Hände klatschen, wenn ich eins, zwei locker-leichte Übungen mit ihnen durchführe und ein schnell ausgedachtes Schusstraining kurz vor dem Abschlussspiel platziere. Schließlich war ich doch derjenige, der sie erst jüngst in die Erfolgsspur hob. Außerdem hatte sich sogar noch ein weiterer Vater als zusätzliche Verstärkung angekündigt. Zu zweit werden wir neue Weichen stellen und alle Burschen in diesen eineinhalb Stunden auf ein neues Level heben.
Schon die erste Übung – das bekannte „einer in der Mitte“ – stand mehrfach auf des Messers Schneide. Weite Schläge über den Platz ohne Verstand, erste Rangeleien und Jungs, die plötzlich aufhörten, mitzuspielen und stattdessen lieber im Tornetz kletterten. Das bekam ich noch halbwegs unter Kontrolle. Klare Ansprache, freundlich, aber bestimmt, ein paar Gags dazu. Schnelle Überleitung zur nächsten Einheit. Nur keine Langeweile aufkommen lassen. Übung Nummer Zwei begann auch noch halbwegs passabel. Zwei Gruppen. Slalomlauf um ein paar Hütchen, Schuss vor der Linie und das Ganze in Richtung kleiner Mini-Tore. So von wegen Bolzen verhindern und genau zielen, am besten Alex-Meier-mäßig mit dem Innenrist. Dann Ball aus dem Tor holen und sauber rechts vorbei an den Hütchen zum nächsten Kollegen passen.
Das Problem war: Dreiviertel der Truppe vergaß leider sofort schon die Hälfte der Aufgaben. Entweder kein Dribbeln, Vollspannschuss über den Zaun in den dahinterliegenden Fluss oder den Pass quer in die Übung des Nächsten. Immer wieder. Dann begannen sie ohne Not und ohne Anweisung meinerseits, die Gruppen willkürlich zu mischen und die nächste Keilerei nahm ihren Lauf. Da sah ich das erste Mal auf die Uhr, erschrak etwas und wünschte die Zeit würde schneller voranschreiten. Selbst mit dem zweiten Vater als Verstärkung wurde nichts besser. Die Konzentrationsspanne der Truppe war anscheinend schon erschöpft. Das Training lief gerade mal 30 Minuten. Mein Kollege und ich berieten uns daraufhin kurz. Seine Idee war sehr einfach und in diesem simplen Vorschlag lag die Genialität. Wir machen jetzt schon das Abschlussspiel! Da lernen sie spielerisch sicherlich das meiste. Da waren wir uns plötzlich ganz sicher.
Während wir die Köpfe zusammensteckten, verfing sich einer der Burschen schon wieder im Tornetz. Warum zur Hölle kletterte er überhaupt da rein? Vier weitere befanden sich im Nahkampf, ein anderer rollte sich einfach quer über den Platz und der Rest begann schon einmal wie ein Haufen Irrer auf die Tore zu schießen. Ok. Mannschaften bilden, jeder coacht eine Truppe. Ich setze beruflich viel auf Kommunikation, also bitte auch hier. Ich erklärte ihnen, wie wir wechseln, wer welche Position hält und dass jeder von ihnen mindestens einmal in den Sturm darf. Kaum hatte ich meine Ansage beendet und das Spiel lief fünf Minuten, war alles für den Arsch. „Ich will in den Sturm“, „Ich will aus dem Tor“, „Tom, zurück, du spielst Abwehr!“. Als hätte jemand einfach einen Sack ausgeschüttelt. Alles völlig wahllos. Meinem Kollegen ging es nicht besser.
Also riefen wir lauthals „STOP! Jeder bleibt stehen, wo er gerade ist. Jetzt schauen wir mal gemeinsam, was hier schiefgelaufen ist. Wieso steht nur einer von euch in der Abwehr? Und was hatten wir abgesprochen? Genau. Du spielst in der Mitte, bis ich etwas anderes sage!“ Wir probierten die Methode des „Spieleinfrierens“ noch zwei bis drei Mal. Es wurde nur marginal besser. Dann begannen die Diskussionen. Foul oder nicht Foul? Warum habt ihr weitergespielt? War der Ball an der Hand? Schreierei und wieder wollten sie sich an den Kragen. Irgendwann gaben wir auf. Abpfiff. Zehn Minuten vor Trainingsende. Mir war hier bereits das Scheitern vollends bewusst. Nur mein Kollege gab nicht auf und hatte noch eine Idee in petto. Ich wusste – vielleicht aus beruflicher Erfahrung – dass das jetzt vollends in die Hose gehen wird. Aber ich ließ ihn machen. Ich war „wie eine Flasche leer“. Desillusioniert und erschöpft.
Feedback-Runde! Er setze auf irgendeine Form der Reflektion. Ich auf nichts mehr. Jeder sollte eine Sache sagen, was er heute gut und was er heute schlecht fand. Schöne Idee. Machen wir zuhause am Esstisch auch ab und an. Das Ergebnis auf dem Sportplatz der SG Praunheim ging so: „Nichts“, „Nichts“, „Gar nichts“, „Alles blöd“, „Gut war mein Tor. Sonst nichts“, „Gut fand ich nichts, blöd war, dass XY nur gefoult hat“ undsoweiter, undsofort. Selbst meine letzte Hoffnung, mein einziger Sohn, mein Fleisch und Blut, konnte dieser Trainingsepisode nichts abgewinnen. Vielleicht war es der Gruppendruck oder doch sein Gefühl für die Realität. „Bruno, was fandest du gut?“ – „Nichts!“
Es ist ein Beitrag über das Scheitern. Noch Wochen danach verspürte ich keine erneute Lust, nochmals in diesen Ring zu steigen. Ich habe beruflich viel um die Ohren, auch schwierige Personalfälle. Ich habe keine Kraft für so ein Chaos. Und ich senke mein Haupt vor dem Trainer, der das alles ohne Alkohol und sonstige Drogen durchzieht. Woche für Woche. Ich mag die Jungs von Herzen, nahezu alle! Und ich übernehme gerne auch nochmals das Coaching bei einem Turnier. Aber sobald das Telefon für einen Ersatz als Trainer klingelt, gehe ich erstmal nicht mehr ran. Keiner da! Was ich nämlich an diesem Training gut fand? Nichts. Wirklich gar nichts. Das habt ihr jetzt davon!
Bruno und ich hören: Belle & Sebastian „The Boy with the Arab Strap“ (Jeepster Records)