Es ist nicht so lange her, da klang es ganz wunderschön in meinen Ohren. Ein feines Trällern. Hell und glockenklar. Geradewegs als habe der Gottvater die Tür aufgemacht und persönlich einen Engel in den Frankfurter Nordwesten geschickt, um mir etwas Herrliches zu flöten. Ein Stimmchen zum Zungeschnalzen, jeder Ton ein Treffer, dazu noch ein Text, ganz sanft und hingebungsvoll. Als wäre ich mitten in einem Klangfestival der begabten Sonnenschein-Kinder gelandet. Oder auf dem berühmten Weihnachtsfest der prächtig-schönen Nachwuchsstimmen. Da war ich einigermaßen verdutzt. Denn es war weder Spotify noch das Radio und schon gar nicht der Plattenspieler.
Wenngleich ich Letzteres eigentlich gleich hätte ausschließen können. Denn niemand außer mir bringt jemals den Plattenspieler in die Rotation. Es war schlichtweg meine Tochter, die diesen Gesang von der Lunge, in die Kehle und von dort auf die Lippen trug. Und da war ich noch mehr von den Socken. Denn in ihren Grundschuljahren sang Hanni schlicht und ergreifend grausig. Oder wie ich vor Jahren in dieser Reihe schrieb: „Meine Tochter lernt Dinge sehr schnell, sie ist witzig und klug, sportlich und mutig, aber sie singt wie eine Katze, der einer den Schwanz abschneidet.“
Ich bin ehrlich und aufrichtig. Wie sich das als treuer Katholik gehört. Hüstel und HoHo. Meine Tochter sang nicht schön. Wirklich! Es war eine Gemengelage aus zu hoch, zu schräg und zu schief. Die gewählten Lieder taten noch ihr übriges. Doch meine offenen und direkten Worte von damals hingen ihr noch sehr lange nach und in den kindlichen Knochen. So sehr, dass sie mich mehrfach anhielt, ich möge das in diesem Format endlich einmal klarstellen. Nachdem ich ihr persönlich gesagt habe, wie schön ihr Gesang neuerdings in meinen Ohren klingt. Das tue ich hiermit jetzt sehr gerne. Also: Meine Tochter singt nicht mehr wie eine Katze, der einer den Schwanz abschneidet. Dazu ist sie weiterhin schlau in der Schule, sogar noch halbwegs witzig geblieben und noch sportlicher geworden. Trotz hanebüchener und unnützer Tik-Tok-Tänze oder YouTube-Schwachsinn. Und auch, wenn wir seit geraumer Zeit nur noch sehr geringe Witz-Schnittmengen haben. Da muss ich nämlich froh sein, wenn ich nicht ein „Oh, Digger, das ist so unlustig“ ernte. Die Zeiten werden nicht besser. Ansonsten alles klargestellt? Von Herzen gerne geschehen.
Vielmehr als positiv überrascht, hat uns in der Elternschaft allerdings noch erstaunt, woher dieser plötzliche Talentwandel rührt. Da fiel uns ein, dass der ganze Gesangsunterricht und die Stimmbildung in der weiterführenden Schule wahrscheinlich die Quelle für diesen nie für möglich gehaltenen Erfolg sind. Also will ich die Gelegenheit der Klarstellung nutzen und auch noch meinen entsprechenden Dank aussprechen. Respekt, was die staatliche Schule hier erreicht hat. Das ist fast so, wie wenn einer jahrelang nur schief kicken konnte und urplötzlich zaubert er die raffiniertesten Freistöße aus der Hüfte. Oben links, unten rechts, mit Effet oder Vollspann. In so Fällen danken auch alle dem Trainer und bringen ihm einen Korb voller Schokolade und Energy-Drinks. Jetzt rufen wir „Sing, Tochter, sing!“, wo wir früher die Türe zuzogen oder andere Tätigkeiten oder Hobbies empfahlen. Wer noch auf die Schule schimpfen mag, der soll mal schön die Latten am Zaun lassen. Es scheint mir eine der wenigen verbliebenen organsierten Instanzen im Land zu sein, die noch halbwegs treu liefern. Zumindest wenn Fachpersonal am Werk ist.
Also ihr chronischen und verbohrten Unterrichtskritiker, this one is also going vor allem out to you! Ihr, die immer alles besser wisst, obwohl ihr noch nicht mal zuhause in der Lage seid, eurem Spross den Dreisatz beizubringen. Dankt den Lehrern und Lehrerinnen, dass sie aus euren verballerten Bälgern noch etwas Blitzsauberes zaubern. Meine ganze Hoffnung für dieses Land liegt noch in diesem Apparat. Rechnen, Schreiben, Englisch sprechen, Demokratieverständnis und dazu noch wunderbar singen. Und ihr ganzen Castingshows mitsamt den Ray Garveys, Kaulitz-Brüdern, Lenas und Boss-Hoss-Hosentaschen-Cowboys dieser Welt, unterstützt das deutsche Schulsystem und die Gesangsklassen am besten ebenfalls mit einer ordentlichen LKW-Ladung an Zaster oder Golddukaten. Denn ohne diesen Nachwuchs und diese Förderkette könnt ihr bald einpacken und euch nur noch gegenseitig selbst beweihräuchern. Aber jetzt lass ich es gut sein. Zum letzten Mal für alle: Meine Tochter singt seit über einem Jahr ganz wunderbar und ich öffne zum Dank alle Türen, wenn sie zum Trällern ansetzt.
Bruno und ich hören: Hot Snakes „Automatic Midnight“ (Swami)