„Papa! Was ist 4378 minus 2495?“ Ich stehe in der Küche und räume die Spülmaschine aus. Selbstredend ohne Unterstützung der Kinder. Nur um das nochmal zu erwähnen. Was erwarten wir als Eltern auch immer. Meine Tochter sitzt Luftlinie vier Meter weg und ruft mir diese Aufgabe ohne Vorbereitung und Warnung zu. Während sie 95 sagt, habe ich leider die erste Zahl schon wieder vergessen. „4300undwas?“ Ich bin doch kein lebender Taschenrechner. „Hanni. Ich bin doch kein lebender Taschenrechner!“. Ich will mich nicht zu sehr selbst loben, aber grundsätzlich bin ich im Kopfrechnen nicht die größte Pfeife. Behaupte ich zumindest von mir selbst. Ich habe keinen blassen Schimmer mehr von Sinus-Kurve, Geometrie und Stochastik, aber in Sachen Kopfrechnen war und bin ich nicht der Schlechteste.
Ich behaupte, es liegt daran, dass ich etliche Jahre lang im Café meines Vaters älteren Damen aus der Ortschaft Kännchen Kaffee, Frankfurter Kranz und Johannisbeersaft-Schorlen serviert habe und mich strikt weigerte, beim Abkassieren einen Taschenrechner zu nutzen. Ich wurde mit den Jahren vielleicht hüftsteifer, aber Kopfrechnen habe ich beständig trainiert. Kopfrechen ist eine Tugend, eine Disziplin, die alle Menschen hegen und pflegen sollten. Das schreibe ich demnächst mal mit Edding an die U-Bahn-Stationen der Stadt. Jugend des Landes, leg das Smartphone weg und rechne: Ein Kännchen Kaffee kostet 4 Mark 50, dazu noch eine Saftschorle zu 3 Mark 80 und zwei heiße Schokoladen für jeweils 3 Mark 50. Was gibt das zusammen, wenn am Tisch drei Kännchen Kaffee gegluckert wurden?
24 Mark und 30 Pfennige! Wie aus der Pistole geschossen kommt das bei mir. Und trotzdem muss ich mich 2023 bei vierstelligen Zahlen und beim Errechnen der zugehörigen Differenz mehr konzentrieren als erhofft. Und die unverrückbare Tatsache, dass ich kein lebender Taschenrechner bin, hindert meine Tochter noch lange keinen Furz, mir im selben Atemzug die nächste Aufgabe zuzuwerfen. Diesmal dreistellig und dafür geteilt. Soll niemand behaupten, mir würde langweilig. Nach einer randvollen Arbeitswoche und inmitten der Haushaltsdienste. Warum können meine Frau und ich nicht einfach auf einer Parkbank sitzen und dumm auf den Fluss schauen? Sonntagsmittags um 15 Uhr?
Meine Tochter besucht seit Sommer die fünfte Klasse eines hiesigen Gymnasiums und urplötzlich muss ich mich auch am Wochenende massiv und übergreifend mehr konzentrieren, als mir das lieb und meiner grundsätzlich von mir an freien Tagen angestrebten Verfassung teuer ist. „4378 minus 2495“ oder geteilt sind da nur müde Witze. Immer häufiger stellt sich mir die Frage: Verflixt, habe ich das jemals selbst gelernt? Was habe ich überhaupt behalten? Bei Mathelehrer Bahmer oder Doris Bauer im Hanns-Seidel-Gymnasium in Hösbach? Minuend, Subtrahend, Divisor, Dividend, wer ist was und was zur Hölle habe ich eigentlich in der fünften Klasse getrieben? Ich bin weder in ein Café gefahren, noch habe ich Alkohol getrunken oder unter fadenscheinigem Vorwand den Unterricht umgangen. Ich war treu wie Nachbars Lumpi anwesend.
All diese Begriffe und Methoden sagen mir noch irgendetwas. Düster und verstaubt lungern sie im Hirnkasten, ganz hinten. Eingemottet. Punkt vor Strich, schriftliches Multiplizieren, Periode drei. Aber es ist ja nicht nur Mathematik. Wie schreibt und liest man die Längen- und Breitenkarten, die Symbole auf der Legende der Landkarte, Höhenmeter? Ach, schau an, da liegt also Kairo. Ich will nicht nur jammern. Meine Tochter ist recht schlau und meine Frau hat sich für den Großteil der Fächer als Ansprechpartnerin gemeldet. Doch Mathematik, Erdkunde und der ganze naturwissenschaftliche Kram landet auf meinem Tisch. Dabei hatte ich in Physik noch nicht mal fünf Punkte in der Oberstufe. Das juckt hier aber im internen Kreis niemanden. Also, her mit all dem Kram. It’s a dirty job, but someone’s got to do it!
Noch ist alles machbar. Ich spiele das Ganze wie George Best in seinen letzten Jahren als Fußballprofi. Stellungsspiel, Antizipation, Lebenserfahrung. Damit komme ich noch gut durch die Einheiten. Aber ich weiß, mein Karriere- und Wissensende naht. Schneller als es mir lieb ist. Doch wird sie vieles, was noch kommt, aller Voraussicht nach im späteren Leben nur bedingt brauchen. Befürchte ich zumindest. Kopfrechnen und Dreisatz sollte aber sitzen. In eine strittige Kurvendiskussion war zumindest ich nach 1992 allerdings nicht mehr verwickelt. Aber wer weiß. Da bin dann jedoch raus. Bis das alles kommt, ziehe ich es eisern durch. Arbeite mich ein in alte Rechenwege, gehe in die Auseinandersetzung mit meiner Tochter und lasse mich beschimpfen, wenn ich nicht sofort auf die schwer verständlich formulierte Textaufgabe reagiere. Denn eins ist auch klar, Matheaufgaben haben auch für einen 50-Jährigen an keiner Stelle Sexappeal gewonnen. Und Mathelernen mit einer wort- und diskussionsstarken Tochter ist stellenweise ein einziges Fiasko. „Ja, Hanni, 4378 minus 2495 ergibt 1883. Genau richtig. Gern geschehen. Hilfst Du jetzt bitte beim Tischdecken?“
Bruno und ich hören: The Lemonheads „It’s A Shame About Ray” (Atlantic Records)