„Süüüü!“, „Süüüüüüüüüü!“… Ich kann es nicht mehr hören, es kommt mir zu den Ohren raus. Wirklich. Ganz ehrlich. „Süüüüü!“ Dazu rutscht mein Sohn quer über den Sand, als habe er just im Moment das entscheidende 2:1 in der 94. Minute im Pokalfinale geschossen. Wir sind aber nur in Dänemark am Strand und mein Sohn will nichts anderes als den ganzen langen Tag Fußball spielen. Er ins Tor, dann ich ins Tor. Weitschüsse, Sololäufe, Flanken, Seitfallzieher trainieren – also das, was ein Sechsjähriger so unter Seitfallzieher versteht – Kopfball, Freistoß und gleich alles nochmal von vorne. Sind wir im Ferienhaus angekommen, muss ich gleich nochmal Bälle auf ein fiktives Tor werfen, links, rechts. „Papa, jetzt noch ein bisschen höher, aber nicht ganz so hoch!“. Ich kann das erste Mal in meinem Leben frank und frei behaupten: Ich habe den Kanal voll von Fußball. Aber so richtig gestrichen. Oberer Rand. Ich glaube, es ist schon übergelaufen. Nicht aber bei meinem Sohn. Es ging in seinem Leben gerade erst los. Jetzt kennt er nur noch Fußball. Tag und Nacht. Ja. Tag und Nacht.
„Süüüüü“!“. Ich wusste nicht, was „Süüüü“ bedeutet bzw. woher es überhaupt kommt, bis mein Sohn mich aufklärte, Ronaldo würde das immer laut rufen, wenn er ein Tor schießt. Aha. Deshalb also „Süüüü“. Ich war einigermaßen irritiert, denn „Süüü“ klingt in meinen Ohren irgendwie türkisch – Schublade auf und zu – und Ronaldo hat doch noch nie in der Türkei gespielt. Deshalb googelte ich und fand heraus, dass Ronaldo wohl irgendwann in seiner torreichen Karriere wirklich damit begann „Siuuuuu“ zu rufen. Ok. Für mich belassen wir es bei „Süüüüüüü!“. Seine ganze Fußball-Peer-Group ruft „Süüüü“. Und kennt übrigens auch noch die unterschiedlichen Arten des Jubels der bekannteren Stürmer aus nah und fern. Ronaldo, Lewandowski, dazu Borré und Lindström. Die beiden Letzteren freuen mich wiederum. Aber unter uns: Hat es 1978 jemanden gejuckt, wie zum Beispiel Jürgen Grabowski ein Tor feierte? Genau. Es war allen ziemlich scheißegal. Hauptsache er hat getroffen. Bruno dagegen kann alle Elfmeter aus dem Euroapleague-Finale samt Spielerreaktionen nachstellen. Lenz’ Finger auf den Mund und Calm-Down-Geste in die Kurve der Rangers, die Kamada-Fäuste … Leute, diese Generation scheint mir auf ihre Art noch durchgeknallter, als das unsere jemals war.
Sein erster Gang in der Früh geht zum Tablet und auf die Kicker-App. Die Kicker-App ist sein ein und alles. Kein Star-Wars-Almanach, keine Marvel-Enzyklopädie, nur die Kicker-App. A kind of Bibel 2.0. Und daneben Zusammenfassungen bis der Arzt kommt oder in seinem Fall das Tablet keine Prozent mehr hat. Bruno schaut alles. Hauptsache Zusammenfassung. Meine Frau und ich sind uns mittlerweile sicher, dass es sich um eine neue Krankheit handelt: Zusammenfassungssucht. Zweite Liga? Hannover 96 gegen St. Pauli? Logo. Muss geschaut werden. Frauenfußball? Na klar. Her damit. Es gibt nahezu jeden Tag in der Früh ein Spiel vom Vortag, dessen Ergebnis geprüft werden muss, national und international. Hat euer Kind ähnliche Symptome? Ihr könnt gerne auf uns zukommen. Lediglich die europäischen Frauenligen hat er noch nicht in voller Gänze im Blick, aber ich verwette meinen Arsch, auch das ist nur eine Frage der Zeit.
Im Sommer schenkte ich ihm das erste Kicker-Sonderheft. Weil ich dachte, Lesen und Stecktabelle sind zumindest eine kleine und sinnvolle Alternative zum kompletten digitalen-Overkill. Jetzt macht er beides. Zusammenfassungen glotzen und hinterher Tabelle stecken. Oh mein Gott. Fußball bestimmt sein ganzen Leben. „Papa?“ „Ja?“ Entschuldigung, mein Sohn unterbricht mich gerade. „Was gibt es Bruno?“ „Weißt du, dass Manuel Neuer gegen Augsburg vor kurzem beinahe sein erstes Saisontor gemacht hat?“ Nein, das wusste ich nicht. Mein Sohn ist übrigens überhaupt kein Manuel-Neuer-Fan. Ganz im Gegenteil. Er hätte mir auch berichten können, dass Rafal Gikiewicz einen schlechten Abschlag in die Füße des Gegners fabriziert hat. Jede Info aus der Fußballwelt hat Bedeutung, egal wie nichtig sie ist.
Selbstverständlich spielt er jetzt auch aktiv Fußball. Das noch nicht einmal schlecht. Er sagt, er habe sehr viel von den Zusammenfassungen gelernt. Ich mag es ihm glauben wollen. Vor allem, wenn er nach einem Tackling zwei Minuten auf dem Boden liegen bleibt, als habe ihm jemand das Kreuzband durchgetreten, nur um dann zwei Minuten später wieder munter selbst quer über den Platz zu grätschen. Aber das ist nicht alles. Hand heben bei der Ecke, als ob irgendeiner der anderen Jungs annähernd kapiert, was er damit sagen oder anzeigen will. Aber es sieht verdammt professionell aus. Jetzt stehe ich nahezu jeden Samstag auf irgendwelchen Frankfurter Fußballplätzen. Hidden Places. Orte, an denen ich vorher niemals war. Mich begrüßen junge Mütter mit „Hallo, willkommen in Nieder-Erlenbach! Wer Lust hat, wir haben frische Waffeln, Kaffee und Tee.“ An anderen Stätten hat der Jugendleiter stattdessen noch Restalkohol. So bunt und vielfältig ist die Welt in dieser Stadt. Ach ja. Kann ich auch schon ein Bier haben? Ach verflixt, es ist ja erst 9.30 Uhr. Ich stehe neben völlig überhitzten Vätern und muss aufpassen, dass ich nicht selbst aus der Haut fahre und ihnen eine in die Visage gebe, weil sie einen glasklaren Strafstoß für die Mannschaft meines Sohnes abstreiten. Allein mein Über-Ich hält mich davon ab. Ruhig bleiben, Vater Rußmann. Wo die Innere Mitte nur geblieben ist?
Vor zwei Wochen stand ich neben einem anderen Vater und ich erzählte ihm von Brunos, sagen wir mal wohlwollend, Passion. Ich sagte auch, so recht wüsste ich gar nicht, woher er diese bedingungslose Leidenschaft habe. Da schaute mich der Vater von oben bis unten an und stellte fest „Naja, du hast ja auch eine Nähe zum Fußball“. Ich trug zu diesem Zeitpunkt meine Eintracht-Kappe und ein entsprechend passendes Oberteil. Es war Samstagfrüh und nachmittags war Bundesliga. Ja, es stimmt. Fußball spielt neben Musik eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben. Und ja, es ist eindeutig, ich habe den Fußball in sein Leben gebracht, ich legte ihm unmissverständlich nahe, dass er, wenn schon, Eintracht-Frankfurt-Fan zu sein hat. Ich schaute mit ihm mehrfach das Finale von Sevilla und schenkte ihm zur Einschulung sein erstes Trikot. Aber jetzt stehe ich einigermaßen fassungslos vor dem Resultat. Herr vergib mir, ich glaube, ich habe ein Fußball-Monster erschaffen.
Bruno und ich hören Courtney Barnett „Sometimes I sit and think, and sometimes I just sit“ (Marathon Artists)