Vor kurzem in der Früh, am Morgen. Zwischen halb und viertel vor acht. Die Frauen hatten bereits das Haus verlassen. Mein Sohn und ich in den letzten Zügen. Kurz vor dem Weg in den Kindergarten. Da kam Bruno um die Ecke. Mit einer etwas überraschenden Frage: „Papa, wie geht eigentlich ein Zungenkuss? Etwa so?“. Dann demonstrierte er mir seine völlig eigene Interpretation des Zungenkusses und verzog dabei sein ganzes Gesicht, als würde und müsste er einen acht Wochen alten Knödel im Mund zerkauen. Er war ganz in seinem Element und ich staunte nicht schlecht.
In seiner Vorstellung scheint ein Zungenkuss sehr mühsam und anstrengend zu sein. Echte Arbeit. Zugegeben, in mancher Konstellation war und ist er das manchmal auch. Dicke Zunge, zwei zu dicke Zungen, zu wilde Attacke, eher rühren und kneten, statt mal mit ein wenig Flow ins Geschehen einzutauchen. Aber so ist das mit dem Rippchen und dem Geschmäckelsche, dem Topf und dem Deckelsche. Am Ende finden die meisten den Stil, den sie brauchen. Und wie so oft anyway. So tief wollte ich kurz nach halb acht gar nicht dozierend einsteigen. Wir mussten auch bald los. Aber wieviel aufrichtige Antwort hat seine Frage eigentlich jetzt schon verdient?
Leserinnen und Leser mit gutem Hirn erinnern sich: Bruno wurde gerade mal sechs. Er ist recht schnell verknallt, aber es vergeht so zügig wie der kurze Rausch jedes Mal kommt. Kürzlich fragte ich grundsätzlich, ob er sich denn überhaupt freue, dass er sich gerade mal wieder in die deutlich ältere Nachbarin über 50 so kurzentschlossen verschossen hatte. Da sagte er entschieden „Nein!“, rollte abwertend die Augen und zumindest diese Verliebtsein war schneller weg als ein Vogel kacken kann. Ich wusste bislang nicht, wann das Thema Zungenkuss und vor allem Technik des Zungenkusses aktuell wird, aber ich rechnete bei allem permanenten Verknallen jetzt noch nicht damit.
Meine Tochter hat nach diesem Kram noch nie gefragt. Zumindest mich nicht. Meine Frau zuckt allerdings auch nur müde mit den Schultern. Somit setze ich bei Hanni alles auf die gute alte Karte „Erfahrungen ermöglichen Lernprozesse“. Aber wieviel will und muss Bruno jetzt bereits dazu wissen? Auf direktes Nachfragen hat er - zumindest gegenwärtig - noch gar nicht vor zeitnah in das aktive Zungenkussgeschehen einzusteigen. Entsprechend beließ ich es bei einigen wenigen Erläuterungen. Ein bisschen aufs Gefühl hören, nicht zu aufdringlich, ein wenig schauen, was das Gegenüber so treibt. Damit war es dann auch gut. Und doch beschäftigte mich die Frage. Was will und muss ein Sohn alles von seinem Vater zum Thema Näherkommen in Liebesdingen erfahren?
Diese Frage gilt selbstverständlich auch für meine Tochter. Doch wie gesagt, sie kümmert mein Erfahrungswissen einen feuchten Kehricht. Ich befürchte, ihr wären jegliche Details von mir dazu mächtig unangenehm. Ich kann für mich festhalten, dass ich mit meinem Vater so gut wie nie über dieses Thema umfangreich in den Dialog gegangen bin. Jeder von uns beiden hat einfach sein Ding gemacht. Ich fragte und frage ihn gerne bei welcher Temperatur und wie lange er ein vernünftiges Roastbeef zubereitet und wie das Rezept für sein Kartoffel-Gratin ist. Aber in Sachen Küssen und folgende Konsequenzen habe ich völlig auf mich selbst gesetzt. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Geküsst habe ich allerdings schon immer gerne und auch ganz ok. Muss ja auch mal gesagt werden. Es gab mit meinem Vater jedoch nur wenige Begegnungen auf diesem inhaltlichen Terrain und wir führten selten Fachgespräche dazu. Noch nicht mal zum Thema Zungenkuss.
In einer bestimmten Phase und zwischen irgendwelchen Wohngemeinschaften in meinem Coming of Age, lebte ich nochmals kurzzeitig bei ihm. Er war zu dieser Zeit längst geschieden und ich zu diesem Zeitpunkt ohne feste Beziehung. Unsere Schlafzimmer befanden sich unweit voneinander. Da hatten wir beide jeweils parallel einen weiblichen Übernachtungsbesuch zu Gast. Das fand am Tag danach mein Vater einigermaßen cool. Ich so leidlich. Weiter haben wir das in gewohnter Manier nicht mehr zum Thema gemacht. Entsprechend entwickelte sich daraus kein dauerhaftes Setting und ich zog bald auch wieder aus. Warum erzähle ich das? Mein Sohn und meine Tochter werden irgendwann den ersten Übernachtungsbesuch haben. Unser Haus ist nicht sehr groß und jeder bekommt recht viel vom anderem hier mit. Meine Güte. Will ich das? Da ist ja die Frage nach dem Zungenkuss noch recht harmlos.
Bevor wir das Haus nach dem kurzen Austausch zum Thema Zungenkuss verließen, schauten wir nochmal die Höhepunkte der Partie FC Barcelona gegen Eintracht Frankfurt. In treuer Vater-Sohn-Symbiose. Das Thema Zungenkuss war längst schon wieder vom Tisch. Mein Sohn darf mich in seinem Leben alles fragen, was ihn interessiert. Ich berichte auch gerne was ich so weiß. Er darf mich ununterbrochen zum Thema Eintracht ausquetschen. Und gerne zum Thema Frauen. Für diesem Morgen war ich allerdings froh, dass Kostic und Ansgar Knauf momentan eine noch höherer Bedeutung für ihn besitzen als ein Zungenkuss. Er ist ja erst Sechs. Alles hat seine Zeit.
Bruno und ich hören: Mclusky „Mclusky Do Dallas“ (Too Pure)