Mit dem Ende der Mensch-Ärgere-Dich-nicht-Partie droht die Situation wieder zu eskalieren. Das Spiel stand bereits vorher wiederholt auf der Kippe. Abbruch, Boykott und so. Zum Schluss hatte meine Tochter keine ihrer vier Figuren ins Haus gebracht, Bruno alle. Kurz vor dem finalen Siegeswurf wurde sie auch noch von ihm geschmissen. Eine Demontage allererster Güte und sein erster Triumph im Familien-Duell im ziemlich frischen Jahr. Entsprechend ausgelassen setzte er zur Jubelfeier an. „Schnell, bestell die neue Staffel von den Thundermans“, rufe ich meiner Frau noch zu. Sie drückt den Kaufbutton beim Großanbieter aus Amerika und die Situation beruhigt sich. Danke Jeff Bezos. Du bist vielleicht doch ein guter Mensch. 14,99. Ein echter Schnapp. Dies ist eine Art Bericht aus der Quarantäne. Und ich frage ungeniert und will dabei gar nicht so viel jammern: Herrgott, was kommt denn noch alles auf uns zu?
Pünktlich zum neuen Jahr hat uns Omikron erwischt, kurz vor dem Impftermin der Kinder. Klarer Fall von dumm gelaufen. 14 Tage Quarantäne. Die neuen Beschlüsse greifen erst dann. Vorausgesetzt wir verstehen das alles richtig. Es ist gerade mal Halbzeit. Wir haben seit April 2020 etliches in den Knochen. Gemeistert und geleistet. Schul- und Kitaschließungen, Home-Office mit Bruno an der Seite, Video-Konferenzen mit Hanni als Assistenz. Prächtiges Home-Schooling meiner Frau für Hanni. Parallel Video-Moderation, Arbeitskontrolle und Handwerkeraufsicht von meiner Seite. Wann immer ich dachte, es geht nicht doller, servierte die Pandemie eine neue Überraschung. Aber dieser Zustand ist eine neue Dimension.
Quarantäne heißt „nicht aus dem Haus dürfen“, sich mit keiner Partnerfamilie kurzschließen, noch nicht mal Spazierengehen zu viert. Ich glaube tief und fest, meine beiden Kinder lieben sich inniglich und außerordentlich. Allein, es fällt ihnen nur von Tag zu Tag schwerer, dies zumindest im Ansatz zu zeigen. McEnroe versus Lendl, Holland – Deutschland, UdSSR und USA, Eintracht und Kickers Offenbach, Rocky Balboa gegen Ivan Drago, Cobra Kai contra Miyagi-Do, Michael Douglas und Kathleen Turner im Rosenkrieg. Die Sport-, Welt- und Filmgeschichte ist randvoll mit ewigen und tiefgreifenden Rivalitäten. Hier im Frankfurter Nordwesten wird gerade ein neues Kapitel geschrieben. Bruder gegen Schwester. Blanke Wut, laut und ohne jegliche Einsicht in unser Haus gebrüllt.
Luft holen. Jetzt schauen sie gerade halbwegs einträchtig die Thundermans. Es wird jedoch nur ein kurzer Moment des Friedens sein. Ich weiß es genau. Brüchig wie ein Ost-West-Abkommen in den 80ern. Es braucht nicht viel, ein Funkenschlag, dann Alarmsignal, die Hütte brennt. In zwei bis drei Sekunden sind sie beide auf 180. Niemand kann mehr genau nachverfolgen, wer der Agent Provokateur war. Sie provozierte ihn, er wurde handgreiflich, vielleicht auch umgekehrt, ich weiß es nicht. Meine Frau schüttelt auch den Kopf. Dafür herrscht in Windeseile ein lautstarkes und grundaggressives Treiben wie in einer Eckkneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel vor der Gentrifizierung. Ich fühle mich plötzlich an meine früheren treuen Besuche im Kronprinzeneck, Kreuzung Elbestraße/Münchenerstraße erinnert. Ich glaube, die Menschen dort waren auch eine Art Schicksalsgemeinschaft. Es reichte dort jedoch nur ein falscher Ton und die Hälfte der Gäste ging sich lautstark an den Kragen. Diesen Zustand haben wir hier mittlerweile erreicht. Selbst die Fäuste würden fliegen, nur unser beherztes Eingreifen verhindert das.
Wir kaufen ihnen so gut wie nie gesondert Serien oder Filme. Was die gängigen Streaming-Dienste ausspucken, muss reichen. Aber derzeit hilft so gut wie nichts mehr. Glotzen und Chips reinwerfen. Das ist unsere erfolgreichste Erziehungsmethode, die wir derzeit anwenden. Das ist arm und hilflos? Ja, vielleicht ist es arm und hilflos. Aber niemand steckt in unserer Haut. „Mama, Papa, dürfen wir noch kurz“. Na klar Kinder, ihr dürft noch kurz. Vor der Quarantäne war kurz zwei Minuten, jetzt ist kurz der neue Begriff für eine ganze Folge. Alles ist relativ.
Es ist nicht alles schlecht und ich will nicht alles niederreden. Die Kinder sind am wenigsten für diesen unsäglichen Zustand verantwortlich. Nur Lebenserfahrung und das Alter verhindern in meinem Fall die Eskalation. Neben allen unnötigen Konflikten haben sie zwischenzeitlich auch das Papierflieger-Bauen perfektioniert und Bruno hat mich in die richtigen Wurftechniken eingewiesen. Hanni hat eine DIY-Influencerin lieben gelernt und fuchtelt mit der Heißklebepistole wie ein schussbereiter Cowboy vor meiner Nase. Aber die Grenzen zwischen Zeit und Raum haben sich völlig verschoben. Wir tragen deutlich zu lange die Schlafanzüge, putzen viel zu spät die Zähne, essen am Nachmittag zu Mittag, die Hot-Wheels-Bahn führt mittlerweile durchs komplette obere Stockwerk. Ein völlig ausufernder Streckenverlauf, den zumindest meine Frau vor der Quarantäne keine halbe Stunde geduldet hätte. Ich habe ihre strengen Hausregeln schon wiederholt hier erwählt. Das sind alles nur ein paar Beispiele.
Ich weiß auch, dass es nach einer Woche Quarantäne Spiele gibt, die deutlich mehr zur Deeskalation beitragen würden als ausgerechnet Mensch-Ärgere-Dich. Ich könnte mit Hanni ausgiebig malen oder Bruno Pumuckl vorlesen, anstatt diesen Beitrag zu verfassen. Aber ich schreibe es auf, um nicht zu im- oder zu explodieren. Wie so oft. Es hat reinigende Wirkung. Eine Woche noch, bitte alle die Nerven behalten. Eine komplette Staffel Thundermans haben wir noch in der Hinterhand.
Bruno und ich hören: Luscious Jackson „Natural Ingredients” (Grand Royal/ Capitol)