Ich muss aufs Neue im Vertrauen nachfragen. Seit wann wissen wir, dass die Fußball-EM 2024 bei uns im Land stattfindet? Erinnert sich noch wer an die Vergabe? Damals mit Reinhard Grindel an der Verbandsspitze. Und der Kaiser noch am Leben und halbwegs wohlauf. Fällt es ein? Ok, bevor sich alle unnötig den Kopf zerbrechen, seit 2018. Um exakt zu sein, seit dem 27. September 2018. Genau. Seit fast sechs Jahren. Nicht erst seit letzter Woche oder seit gut einem Jahr. Wir sind auch keine Notfalllösung, weil es in einem anderen Land nicht funktionierte. Kein Krieg in der Ukraine und kein Organisationsversagen an anderer Stelle hat das Turnier in unsere Hände gespielt. Wir wollten dieses Tournament ausrichten. Deshalb haben wir uns beworben. Und am Ende haben wir es sogar bekommen. Seit diesem Tag wissen wir, dass die EM 2024 ansteht. Und uns ist bekannt, dass viele Menschen aus ganz Europa in exakt diesen vier Wochen in unser Land reisen. Einige mit dem Auto, ein paar kommen geflogen und ganz viele nehmen die Bahn. Denn wir wollten es ja von Beginn an besonders nachhaltig. Denn Nachhaltigkeit ist verdammt sexy in diesen Tagen.
Jetzt hatten wir sechs verdammte Jahre Zeit, um uns auf das Turnier vorzubereiten.
Als Schlagwort und Motto. Dafür braucht es noch nicht mal Birkenstock und Wollsocken. So weit, so gut. Jetzt hatten wir sechs verdammte Jahre Zeit, um uns auf das Turnier vorzubereiten. Wir wussten, was passiert. Der DFB hatte auch alle ausreichend früh eingebunden. Der hat seinen Job gemacht. Es ist schließlich das drittgrößte Event der Welt und überhaupt: So viele Großveranstaltungen haben wir auch nicht im Land. Sehen wir mal vom ZDF-Fernsehgarten am Sonntag ab. Olympische Spiele wollen wir nicht so recht und das letzte Mal, dass wir innerhalb einer Woche diese Menge an Menschen aus Italien, Ungarn, Schottland oder aus Frankreich zeitgleich im Land begrüßen durften, ist auch schon 18 Jahre her. Gut. Zwischen der Vergabe und dem ersten Spiel liegt eine Pandemie und ein Kriegsausbruch. Das will ich als Erschwernis für die Vorbereitung gelten lassen. Trotzdem. Sechs Jahre. Ich wiederhole: SECHS! Nur zum Vergleich: In solch einem Zeitraum wird ein Kind geboren, lernt laufen und sprechen, besucht den Kindergarten und wechselt oftmals noch in die Grundschule. Wir wussten, was ansteht und wir kannten auch unsere Schwachstellen. Der Zustand der Bahnhöfe und vor allem das Malheur mit der Deutschen Bahn und dem ÖPNV. Uns war bekannt, dass dies der sensible Punkt unseres Todessterns ist. Hier sind wir angreifbar, genau da müssen wir uns besonders sattelfest zeigen. Keine Schwäche. Stattdessen deutsche Verlässlichkeit, allen voran unsere Monsterkraft aus der Kiste holen: German Pünktlichkeit. Am Rande meine Lieblingstugend. Doch kaum läuft die Vorrunde, kommen die Beschwerden aus England und Österreich. Züge verspätet, kein Anschlussverkehr in Passau, erste Halbzeit verpasst.
„Die Deutsche Bahn ist so im Oarsch“.
Das geht so weit, dass uns sogar die sogenannten „Schluchtenkacker“ – um einmal eine in Deutschland beliebte Bezeichnung für unsere Nachbarn zu nutzen – zurecht beschimpfen dürfen. „Die Deutsche Bahn ist so im Oarsch“. Und dazu ausgerechnet noch die Engländer, ein Königreich am Abgrund. Das dank seines Finanzkapitalismus nicht mal eine vernünftige zahnärztliche Versorgung für seine Bürger sicherstellen kann. Remember Thatcher fucked the Kids. Müssen wir uns diese Blöße geben, Deutsche Bahn und öffentlicher Nahverkehr? Ganz ehrlich. Halb Europa wartet doch darauf, dass was nicht funktioniert. Die Welt zu Gast bei Freunden. Das war einmal unser Motto. Da muss man bereit sein und liefern, liefern, liefern. Bis die Schwarte kracht. Dass es dann kommt, wie befürchtet, verstehe ich nicht. Denn wenn bei Teilsperrungen an den Reisetagen nicht mindestens 400 Busse als Ersatzverkehr bereitstehen, ist das schwer zu vermitteln. Dass die Belgier die Hosen voll haben, weil sie in Zombieland Frankfurt ankommen? Ach herrje, darauf einen feuchten Furz, um im Bild zu bleiben. Dass Stuttgart 21 wohl zu meinen Lebzeiten nicht mehr fertig wird? Schwamm drüber. Aber dass es an funktionierenden Zügen und genug Bussen fehlt? Leute, das will mir nicht in den Kopf.