Eine FRIZZsche Zeitreise zum September 2020: Was passiert eigentlich, wenn (Groß-)Veranstaltungen wieder erlaubt sind? Wenn kulturell völlig ausgehungerte Menschen nach Monaten ohne jegliche Live-Zerstreuung wieder auf Konzerte, Kabarett und Volksfeststimmung treffen? FRIZZ Das Magazin hat mal wieder die hauseigene Glaskugel angeschmissen …
Gleich mal vorweg: Die folgenden Zeilen sind der schriftliche Beweis dafür, dass den FRIZZen dieser Lockdown mitsamt Home-Office, mangelndem sozialen Kontakt und uneingeschränktem Zugang zu harter Alkoholika zu jeder Tageszeit auch nicht gut tut. Sei’s drum. Wir laden euch mal wieder zu einer Zeitreise ein.
Wir schreiben den 1. September 2020. Corona ist unter Kontrolle, vor einer Woche hat Kanzlerkandidat Söder in einem festlichen Akt mit dem Durchschneiden des letzten Mund-Nasen-Behelfsmasken-Haltegummis (geschätzt 32 Punkte im Scrabble!) bei einer niederbayerischen Kartoffelkönigin feierlich die Freibadsaison eröffnet. Und nun ist auch sie wieder erlaubt: Kultur! Nachdem ja am 1. Mai in Bayern das Wort „Großveranstaltung“ mit Events über 42 Besuchern (also zwei mehr als die Zahl des durchschnittlichen Gottesdienstbesuchs) definiert wurde, darf also ab diesem sonnigen Dienstag auch bei uns wieder öffentlich die Gitarre in die Hand genommen werden. Alle Kneipen ab Trinkhallengröße, Clubs und Bühnen unserer Stadt haben die Krise überlebt und öffnen wieder ihre Türen. Und allein der letzte Satz zeigt, dass es sich bei unserem Ausblick um eine wilde Fantasie handelt, die ihr bitte, bitte nicht so ernst nehmen sollt. Dürft. Müsst. Wasauchimmer. Los geht’s.
1. September
10 Uhr: Die Morgensonne taucht den Roßmarkt in ein goldenes Licht. Claus Berninger blinzelt in den Himmel, als er die Tür zum Colos-Saal aufschließt. Endlich wieder arbeiten! Die für den Abend angekündigte Show einer bekannten deutschen Rockgröße ist noch nicht ganz ausverkauft, anscheinend haben einige Konzertgänger gar nicht mehr daran geglaubt.
12 Uhr: Die Tagespresse, der Rundfunk und alle sozialen Medien überschlagen sich. Noch ist niemand in München oder Berlin spontan zurückgerudert, anscheinend ist es wirklich wahr: Kultur ist wieder da.
12.10 Uhr: Der Colos-Saal ist nun für den Abend ausverkauft, der Hofgarten ebenso. Auch die Dead-Energy-Jubiläumsshow im Irish Pub, die am 11.9. steigen soll, meldet bereits „sold out“. In allen Kulturstätten der Stadt glühen die Telefone. Die Leute wollen Tickets, egal für was oder wen.
21 Uhr: Es spielen sich ungewöhnliche Szenen ab. Im Hofgarten lacht und klatscht niemand. Alle schauen nur ungläubig auf die Bühne, als könnten sie es nicht glauben, dass da tatschlich live einer vor ihnen steht und spricht. Auch im Colos-Saal etwas Neues: Vor lauter Ergriffenheit vergisst das Publikum das Filmen mit dem Smartphone. Fast schon gespenstisch. Die Abende enden überall mit euphorischen Standing-Ovations.
2. September
9 Uhr: Die zuständigen Gremien der Stadtverwaltung bearbeiten mit Hochdruck die Eilanträge der verschiedenen verschobenen Sommer-Veranstaltungen, die jetzt alle noch kurzfristig stattfinden wollen. Man erarbeitet krude Notfallpläne hinsichtlich Logistik und Versorgung.
14 Uhr: Vor den Ticketshops und Vorverkaufsstellen der Region bilden sich lange Schlangen. Vor einigen wurde sogar campiert.
15 Uhr: Bei strahlendem Sonnenschein macht sich nahe Würzburg eine Rentnertruppe aus Herne mit dem Fahrrad auf den Weg zur Tour am Main entlang. Ziel am kommenden Wochenende: Aschaffenburg.
18 Uhr: Hofgarten Kabarett, Stadttheater, Stadthalle, Colos-Saal, Irish Pub, JUKUZ & Co.: Alle melden ausverkaufte Veranstaltungen für die kommenden Tage und Wochen. Die Wartelisten für kurzfristig freiwerdende Tickets füllen erste Aktenordner.
3. September
14 Uhr: Nach einer stundenlangen Telefonkonferenz verwirft man den Plan, das Volksfest und das Fest „Brüderschaft der Völker“ spontan gemeinsam auf dem Volksfestplatz stattfinden zu lassen. Neben der schwierigen, gemeinsamen Namensfindung werden Parkprobleme offiziell als Grund genannt. Denn der Platz wird als P+R-Parkfläche für das Carillonfest samt Kunsthandwerkermarkt, Aschaffenburg bis Mitternacht, den komprimierten Kultursommer, das Dalbergfest, Unten am Fluss, die Nacht der 8, die Gickelskerb, Eckertsmühlen-Open-Air und den Sandsturm gebraucht, die alle am ersten Septemberwochenende stattfinden sollen.
16.30 Uhr: Dead Energy meldet „hochverlegt ins Stadttheater“.
16.31 Uhr: Der deutsche Wetterdienst meldet bestes Wetter bei mildsommerlichen Temperaturen für die kommenden zwei Wochen.
18.15 Uhr: Im Colos-Saal hat man so eine Idee. Im Hofgarten auch.
19 Uhr: Eine Lesung in der Buchhandlung Diekmann mit einer nepalesischen Rückwärtsläuferin platzt aus allen Nähten und sorgt für Menschenmassen in der Innenstadt. Das Sedgwick veranstaltet eine Black-Night, die Schlange vor der Location bringt den Verkehr rund um den Bahnhof zum Erliegen.
4. September
10 Uhr: Die FRIZZen bringen spontan einen aktualisierten Kulturkalender für die ersten zwei Septemberwochen heraus. Der Telefonbuchverlag freute sich wie Bolle, das 478-seitige Machwerk drucken zu dürfen.
12 Uhr: Die erste Auflage, die mit einem 40-Tonner auf dem Schloßplatz abgekippt wurde, ist komplett vergriffen.
13.12 Uhr: Colos-Saal und Hofgarten melden in einer gemeinsamen Pressemitteilung, dass man ab sofort die Schlagzahl der Konzerte und Shows auf zwei pro Tag erhöht. Die Meldung verbreitet sich rasend schnell.
14 Uhr: Die zusätzlichen Slots sind komplett gebucht und im Vorverkauf.
14.20 Uhr: Alle zusätzlichen Shows im Colos und Hofgarten sind ausverkauft.
16 Uhr: Die Radlergruppe aus Herne checkt im Hotel Dalberg ein und will nochmal kurz vor dem Abendessen mit dem Rad die Stadt erkunden. Ein folgenschwerer Fehler.
19 Uhr: Der Freitagabend in der Innenstadt erinnert an frühere Stadtfestzeiten, als im Heylandshof noch eine Bühne stand – überall Livemusik und Kunst sowie eine kulturell total ausgemergelte Menschenmasse. Apropos Stadtfest: Dies wurde kurzfristig auf das folgende Wochenende terminiert.
20.30 Uhr: Eigentlich sollte im Colos-Saal die zweite Band des Abends beginnen. Da Gegenlicht aber nicht von der Bühne gelassen wird und gerade Zugabe Nummer 15 anstimmt, beginnen die Hooters ihr Set als Marching Band im Sidekick.
22 Uhr: Der Strom an Menschen reißt nicht ab. Alle, die nicht in irgendwelchen Clubs oder Live-Schuppen unterkommen, raven im Schöntal zum spontanen Standkonzert der Melomania Obernau. Einige lächeln selig, da sie sich an Love-Parade-Zeiten erinnern. Derweil starten mehrere tausend Menschen auf dem Bauhaus-Parkplatz in die große Casino-Startrek-Nonstop-Open-Air-Kino-Nacht.
23.20 Uhr: Die sichtlich verwirrte Radwandergruppe aus Herne sucht inmitten der vollen Straßen noch immer den richtigen Weg zurück zum Hotel.
5. September
8 Uhr: Nach einem aussichtlosen Kampf über die gesamte Nacht, die sich anbahnende Zeltstadt von auswärtigen Kulturfreunden jeglichen Alters auf dem Nilkheimer Flugfeld zu verhindern, gibt das Ordungsamt auf und besinnt sich lieber darauf, alles in geregelten Bahnen zu halten. Aufgrund der friedlichen Stimmung aber kein Problem.
9.30 Uhr: Nachdem die Veranstalter den gesamten Sommer über den Platz mit Hilfe von wild zusammengehamsterten Mengen von Katzenstreu trocken gehalten haben, öffnet nun auch das Mühlberg-Festival seine Türen.
9.35 Uhr: Während über dem gesamten Untermain die Sonne lacht, ergießt sich ein stundenlanger Platzregen über dem Mühlberg. Nach kurzer Schockstarre liegen sich die Macher glücklich in den Armen, denn schlussendlich ist nur dies das Zeichen für ein gelungenes Festival.
12 Uhr: Der Colos-Saal hat inzwischen auf drei Shows pro Tag erhöht und wickelt den ersten Einlass des Tages ab. Ausverkauft. Natürlich. Da an Nightliner in der Innenstadt sowieso gar nicht mehr zu denken ist, übernimmt Pam den Künstlertransfer mit ihrem Lastenfahrrad. Ihr Shuttle-Service zwischen Roßmarkt und Hotel Dalberg sorgt für Aufsehen.
18 Uhr: Dead Energy meldet „hochverlegt ins Sedgwick“.
20 Uhr: Sämtliche Veranstaltungen im Stadtbereich verzeichnen Besucherrekorde, selbst konkurrierende Konzepte wie die Nacht der 8 und der Sandsturm. Jedoch erreichen die Polizei diverse Meldungen über eine ominöse Radfahrertruppe, die einen verwirrten Eindruck machen würde und Passanten um Wasser anbettelt. Gesichtet wurde diese in kurzen Abständen in der Weichertstraße, am Floßhafen sowie in einem Drive-In am Kopf der Würzburger.
6. September
11 Uhr: Eine erste kurze Atempause für die Stadt, die erste Welle der Euphorie scheint überwunden. Was in diesem Falle eigentlich nur bedeutet, dass die Feuerwehr mal kurzzeitig nicht den Verkehr regeln muss. Doch vom Virus-Sommer her wissen wir, dass diese Kurve trügerisch sein kann. Und so soll es auch kommen.
12 Uhr: Bei den Sommer-in-Aschaffenburg-Liegestühlen im Schöntal werden inzwischen Wartemarken wie bei der Zulassungsstelle verteilt. Jedoch wirken die Blutjungs und Metal-Attack als erste Acts des Tages ein bisschen deplatziert. Aber: Kultur darf alles.
16 Uhr: Zwischenfall auf dem Carillonfest/Kunsthandwerkermarkt, bei dem einem Töpferstand der gesamte Warenbestand zerstört wird. Eine Schneise der Verwüstung bestimmt die Szenerie, Augenzeugen berichten von einer desorientierten Radfahrergruppe, die an eine wildgewordene Rotte Wildschweine erinnert hätte.
18 Uhr: Eine folgenschwere Panne auch hier: Durch eine Verwechselung von Ablaufplänen in allerletzter Sekunde steht Mario Barth auf einmal vor einem völlig unterforderten Publikum im Ridingersaal bei der diesjährigen „Main-Reim“-Buchmesse, während Paul-Henri Campell mit seiner hochkomplexen Lyrik bei 3.000 Zuschauern in der f.a.n. frankenstolz arena für fassungslose Gesichter sorgt.
21.20 Uhr: Einer Polizeistreife wird am Godelsberg die Vorfahrt genommen – von einer Gruppe Radfahrer aus Nordrhein-Westfalen. Immerhin kommen diese danach endlich wohlbehalten in ihrem Hotel an, eskortiert von den Freunden und Helfern.
7. September
10 Uhr: Eine Delegation aus dem hohen Norden wird im Rathaus vorstellig und möchte sich ihren Termin für den Hamburger Fischmarkt sichern. Man sei zufällig in der Nähe und könnte direkt loslegen. Da der Parkplatz hinter der Konditorei Hench aber die noch einzig verfügbare Fläche in der Stadt darstellt, wird dem Begehr vom zuständigen Sachbearbeiter, selbst noch sichtlich gezeichnet vom vergangenen Wochenende, ein abschlägiger Bescheid erteilt. Die Nordlichter lassen aber nicht locker und handeln mit dem total erschöpften Beamten folgenden Deal aus: Der Hamburger Fischmarkt und der Weihnachtsmarkt gehen in diesem Jahr gemeinsam als Hamburger Weihnachtsfischmarkt an den Start.
14 Uhr: Aufgrund der immensen Nachfrage, sowohl von Besucher- als auch Künstlerseite, erhöhen Colos-Saal und Hofgarten auf bis zu vier Shows pro Tag.
17 Uhr: Dead Energy meldet „hochverlegt in die TuS-Damm-Turnhalle“.
20 Uhr: In der Innenstadt sieht es immer noch aus wie vor der Hauptbühne in Wacken. Nur sind sie nicht ganz so frenetisch. In Wacken.
9. September
9 Uhr: Der Citylauf wird vorbereitet. Die paar Läufer machen den Kohl jetzt auch nicht mehr fett. Zudem können sich die Kombattanten über eine Stimmung freuen, wie wenn Messi im Camp Nou in der Nachspielzeit den Siegtreffer erzielt.
12 Uhr: Die Kommz-Gruppe verwirft die Idee, statt des Line-ups auch diesmal das Datum komplett geheim zu halten. Um das Stadtfest nicht zu stören und, da vom Flugfeld bis zum Möbel Kempf jeder Fleck Rasen sowieso von Zelten belegt ist, fangen sie einfach mit einem Turbo-Aufbau und dem Vorverkauf an.
15.45 Uhr: Das Kommz ist ausverkauft und beginnt am nächsten Tag.
20 Uhr: Eine überstürzt eingestellte 450-Euro-Kraft verwechselt im Stadttheater ein paar Wegweiser und Schilder. Mit dem Effekt, dass sich Jazzer Peter Linhart auf einmal in der Hauptrolle bei einer progressiv angelegten Bühnenversion von (passenderweise) „Peter und der Wolf“ auf Bühne II wiederfindet, während sich zwei Schauspieler eines mitteldeutschen Tourneetheaters auf Bühne I einer Jazzbigband gegenübersehen. Peter Linhart improvisiert sich in die Herzen der Zuschauer, während die Schauspieler neue Maßstäbe in Sachen Free-Jazz setzen. Die Presse jubelt.
10. September
10 Uhr: Dead Energy meldet „hochverlegt in die f.a.n. frankenstolz arena“.
12 Uhr: In der Stadthalle beginnen die Aufbauten zum Boppin’B-Rock ’n’ Roll-Musical „My Sweet Quarantine“, das am Abend Premiere hat und danach auf Deutschland-Tournee gehen soll.
15 Uhr: Mehr geht nicht: Das Colos Saal ist mit fünf Shows pro Tag am Limit. Weil die Spider-Murphy-Gang aber trotzdem spielen will, ziehen sie auf einen Anhänger auf dem BayWa-Parkplatz um. Die Goldbacher Straße ist daraufhin für längere Zeit nicht mehr passierbar.
19 Uhr: Der Tulpenball, aufgrund mangelnder Platzkapazitäten in die Gärtnerei Löwer umgezogen, öffnet seine Türen. Es wird eine rauschende Nacht in feinem Zwirn, die noch lange für selige Gesichter sorgt.
20 Uhr: Beim Kommz steht man 50 Minuten vor dem Biermarkenstand. Wenigstens einmal Normalität in diesen verrückten Tagen.
21 Uhr: Boppin’B räumen mit ihrem Musical komplett ab. Die am selben Tag veröffentlichte Single „I can get no Desinfection“ geht direkt auf Eins in die Charts.
11. September
11 Uhr: Nachdem sie einige Tage aufgepäppelt wurden, verlassen die Radler aus Herne – ausgestattet mit Stadtplan – das Hotel Richtung Heimat. Gesehen werden sie ein letztes Mal von den Fahrern der 40-Tonner, die die Dead-Energy-Bühne an der f.a.n. arena anliefern sollen. Sie begegnen sich in der A3-Ausfahrt Aschaffenburg-West.
14 Uhr: Auch die FRIZZen machen mal Fehler. Gemäß der Ankündigung auf Seite 386 des Kulturkalenders schlägt die 65-köpfige Produktion der „Irish Dance Sensation Show“ nicht in der Stadthalle, sondern im Irish Pub auf. Es wird ein mitreißender Abend in der Ludwigstraße, inklusive Steptanz-Flashmob auf dem Dämmer Steg.
18 Uhr: Der Aufbau des Stadtfests beginnt. Sämtliche Radiosender berichten von kilometerlangen Staus rund um Aschaffenburg, es strömen noch immer mehr Leute in die Stadt.
22 Uhr: Dead Energy spielt die achte Zugabe. Die f.a.n. arena tobt.
12. & 13. September
Das Stadtfest setzt dem ganzen Irrsinn noch einmal die Krone auf. Zwei volle Tage wird an allen Ecken und Enden Aschaffenburgs gesungen, getanzt, gelacht, geliebt. Von der Anhängerbühne auf dem BayWa-Parkplatz bis zur Schweinheimer Gutsschänke sind die Straßen voll von Musik, Menschen und Attraktionen. Eine einzige Welle der Euphorie, der Bässe, des Bieres, eine pulsierende, kochende Masse aus Endorphinen und verzerrten Gitarrensoli. Ein Traum.
13. September
21.59 Uhr: Irgendwo in Damm entschließt sich Justin W., der die letzten Tage mit Kopfhörer auf der PS4 durchgezockt hat, sein Huawei XZ27 an die Ladung zu hängen. Durch diese Verbrauchsspitze hat die bisher so tapfere Sicherung Nr. 457292 im Umspannwerk endgültig die Schnauze voll. Klack. Es wird dunkel und still. Der Spuk ist vorbei.
Anm. d. Red. für Allesimmervielzuernstnehmer:
Als unsere beiden fantasierenden FRIZZen Trierweiler und Stein aus ihren wahnhaften Eventträumen aufwachen, befinden sie sich Ende April mitten in Corona-Quarantäne.