Foto: Anika Koppenstedt
STREETS OF AB #9
Kurze Wege, lange Geschichte: Viele Meter häufen Treib-, Enten- und Steingasse zusammen nun wirklich nicht an – dafür hat das Trio allerdings einiges zu bieten. Auf engstem Raum tummeln sich die verschiedensten Ladenlokale, historisch bedeutsame Fleckchen sowie einladende Cafés und Bistros. Wer an jenen auf den ersten Blick so unscheinbaren Gässchen immer nur vorbeieilt, tut ihnen nicht nur Unrecht, sondern verpasst auch ein deftiges Stück Heimatkunde.
Das illustre Trio hat schon turbulente Zeiten erlebt – leider sowohl positiver als auch negativer Natur. Vor allem die Ecke Treib- / Entengasse ist durch den Nationalsozialismus geprägt: Die 1893 dort eingeweihte jüdische Synagoge im maurischen Stil ging in der Pogromnacht 1938 in Flammen auf und brannte bis auf die Grundmauern nieder. Nach 1945 wurde der ursprüngliche Synagogen- in Wolfsthalplatz (nach dem jüdischen Bankier und Wohltäter Otto Wolfsthal) umbenannt und ging in den Besitz der Stadt Aschaffenburg über. 1984 wurde der Ort als Gedenkstätte neu gestaltet – bis heute dient er der Erinnerung sowie Besinnung und ist gleichzeitig ein Zeichen der Versöhnung. Hinter der Hausnummer 20 befindet sich das 1898 bis 1899 als Rabbinats- und Schulgebäude der isrealitischen Kultusgemeinde erbaute Gemeindehaus, welches mittlerweile das Museum jüdischer Geschichte und Kultur beherbergt.
Stärken können sich müde Geister heutzutage im Bistro red in der Entengasse 4 – hausgemachte Tartes und Muffins sowie täglich frische Lunchgerichte stellen Leckermäuler stets vor die Qual der Wahl. Hättet ihr übrigens gewusst, dass der erste Aschaffenburger Waschsalon in der Entengasse eröffnet wurde? 1953 boten gleich drei Automaten modernster Technik im Waschsalon Ilse die Möglichkeit, blütenweiße Kleidung in sagenhaften 60 Minuten zu erhalten. Für Cineasten war übrigens besonders die Treibgasse 1a interessant: Bereits 1913 öffnete hier das Lichtspiel-Theater mit stolzen 360 Sitzplätzen seine Pforten. Für schlappe 25 Pfennig (auf den billigsten Plätzen) oder 1,05 Reichsmark (in der Loge) konnte man sich ganz dem Kinogenuss hingeben. 1926 wurde aus dem Lichtspiel- das Uniontheater, das im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Es konnte allerdings fast unverändert wieder aufgebaut werden und lieferte noch bis 1964 filmische Freuden.
Sprudelndes „Myrtenfräulein“
Freunde feiner Tropfen fühlen sich heute indes vor allem im Whisky-Fachgeschäft Dudelsack in der Treibgasse 6 wohl: Aus über 200 Sorten kann hier gewählt werden. Fans der amerikanischen Kultur hingegen sollten in Daniel’s American Corner vorbeischauen. Um bei all diesen Verlockungen liquide zu bleiben, geht’s kurzerhand direkt in die Hauptstelle der Sparkasse Aschaffenburg-Alzenau. Derart „gestärkt“ kann man sich nun entweder ins Getümmel der Herstallstraße stürzen, um die Penunzen wieder ordentlich auf den Kopf zu hauen, oder man gelangt über die idyllische und etwas versteckte Mälzerei-Passage in die Steingasse – allerdings nicht ohne vorher den Brentano-Brunnen zu bewundern: Seit 1987 zeigt dieser eine Szene des Märchens „Myrtenfräulein“ von Clemens Brentano, der die letzten drei Wochen seines Lebens in Aschaffenburg verbracht hat. 1842 starb der Schriftsteller und fand auf dem Altstadtfriedhof seine letzte Ruhe. Eine kurze Verschnaufpause am sprudelnden Nass wirkt wahre Wunder – ratzfatz ist man wieder fit für einen Bummel durch eine der ältesten Straßen der Stadt – die Steingasse. Das breit gefächerte Angebot kann sich hier durchaus sehen lassen: Bäckereien, Eisdiele, kleine Boutiquen – wer hier nicht fündig wird, dem ist schwer zu helfen. Leseratten finden in der Buchhandlung Diekmann ihr Eldorado, Italophile in der Bar del Corso, in der der Aperol Spritz mindestens so gut mundet wie auf der Piazza Roma in Monteriggioni.
Bildung für Groß und Klein
Vis-à-vis kann man seinen Knirpsen auch mal wieder etwas Kultur gönnen: Das StoryStage Märchentheater zeigt nicht nur eine sehenswerte „Rumpelstilzchen“-Inszenierung, sondern auch die Geschichte von „Hänsel und Gretel“. Am besten vorher im S-Salon tief in die Suppenschüssel schauen oder ein leckeres Sandwich verputzen! Ums Eck gibt’s übrigens im sozialen Café Oase Kaffee und Snacks für kleines Geld. Zudem hilft das Café-Sozial-e. V.-Team zum Beispiel beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen. Wenige Schritte davon entfernt wird Heimatkunde besonders groß geschrieben: Hinter der Hausnummer 3 der Treibgasse befindet sich die Geschäftsstelle des Spessartbundes – Informationen gibt es hier in Hülle und Fülle. Wer auf der Suche nach Outdoor-Bekleidung oder -Ausrüstung ist, der ist bei Sport und Outdoor Schädlich in der Nebensteingasse genau richtig.
Wer Aschebersch nicht nur zum Fressen, sondern auch zum Trinken gern hat, der suche den Teeshop in der Treibgasse 10 auf: Die exklusiven Aschaffenburger Sorten duften nicht nur verführerisch, sondern schmecken auch so. Im Weltladen für faires Handeln e. V. kann man anschließend noch Gutes tun, bevor die Treibgasse es Heimatkundlern am Agathaplatz schwer macht, ohne Einkehr weiterzuflanieren: Für Freunde von Bio-Lebensmitteln eignet sich das Radieschenblatt mit eigener Eisdiele hervorragend für einen kurzen Stopp. Das Team der Weinstube Kitz garantiert sowohl im lauschigen Höfchen als auch im urigen Gewölbekeller oder im gemütlichen Innenraum große Gastfreundschaft. Direkt über dieser Location in der Treibgasse 19 findet man übrigens den Hot Spot der Stadt: die FRIZZsche Redaktion! Hier werkeln wir Monat für Monat an einer fabelhaften Ausgabe eures Lieblingsmagazins. Wenn wir aus unseren Fenstern zur Straßenseite hin blicken, sehen wir auch das Martinushaus, DIE Anlaufstelle in Sachen Beratung, Sozialem und Seelsorge, sowie das Jugendbildungszentrum Katakombe. Das Kopfsteinpflaster musste an diesem Abschnitt der Treibgasse leider weichen, überquert man allerdings die Kreuzung mit der Luitpoldstraße, können die Füße wieder echten Altstadtboden spüren. Damit allerdings nicht nur die Heranwachsenden ihren Horizont erweitern, sollte man einen Abstecher zur Aschaffenburger Volkshochschule machen. Wie wäre es nun mit einem Italienisch-Sprachkurs, jetzt, da es mit der Heimatkunde klappt?