Mein Unwort des Jahres 2020: Unfair. Ich nominiere es auch schon einmal für 2021. Zur Sicherheit. Unfair ist mein Unwort der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft und kurzum - wenn wir gerade dabei sind - das Unwort meines Jahrzehnts. Nicht Klimahysterie von 2019, nicht Anti-Abschiebe-Industrie 2018, selbst alternative Fakten von 2017 kann dagegen nicht anstinken, Volksverräter aus 2016 schon mal gar nicht, genauso wenig wie das 2015er Unwort Gutmensch oder Lügenpresse aus 2014. Und gegen Unfair klingen Sozialtourismus aus 2013 und Opfer-Abo aus 2012 wie Wohlgesang in meinen Ohren. Ach, ich wollte meine Tochter würde einmal sagen, wir würden hier alternative Fakten servieren, statt immer alles als unfair zu bezeichnen. Nur zur Abwechslung.
Ich kann es schlicht und ergreifend nicht mehr hören dieses Wort! Unfair ist der Karl-Heinz Rummenigge oder Xavier Naidoo unter allen nur erdenklichen Worten. Was soll 2020 noch kommen? Pandemie, Lockdown, R-Faktor? Dass ich nicht lache. Ladies and Gentlemen, the winner is: Unfair! The Oscar goes to… Unfair. Unfair ist die Alien-Mutter aller Unwörter. Nur noch größer, schleimiger, grässlicher. Mehr geht nicht. Das Unwort der letzten acht Jahre und der kommenden zehn, befürchte ich. Wahrscheinlich bis meine Tochter auszieht. Bis dahin ist und bleibt alles unfair. Unfair galore. Unfair XXL. Ich kann es nicht mehr hören. Herrgott, unfair! Es kommt mir aus den Ohren wie gammeliger Brokkoli. Furchtbar.
Gerade war es wieder so weit. Ich machte Hanni ein Käsebrot und Bruno ein Fleischwurstbrot. Letzteres war wohl minimal größer und wieder brach die Welle der Empörung los: Unfair! Das ist so unfair, dass Brunos Brot größer ist als ihre Käseschnitte. Unfair und überhaupt. Kaum hat sich die Situation beruhigt und ich will die Zeit nutzen, das alles mal aufzuschreiben, kommt schon der nächste Skandal um die Ecke. Gleich nochmal lauthals: „Unfair!“. Innerhalb von fünf Minuten. Zweimal hochgradig unfair. Diesmal, weil wir sie nicht mehr auf den Hof lassen. Nur zur Erklärung: Sie waren gerade beide über eine Stunde im Garten, dabei schrien sie so laut, als sei ihnen Freddy Krüger aus Nightmare on Elm Street höchstpersönlich begegnet und hätte ihnen die Finger abgeschnitten. Es war Sonntagmittag. Leute, das kannst Du keinem Nachbarn antun. Aber Hauptsache unfair!
Jetzt bleibt folgerichtig die Tür zu. Und das ist unfair. So unfair. Richtig unfair. Denn wir dürfen immer alles machen, was wir wollen. Nur sie eben nicht. Unfair, dass wir länger als zehn Uhr am Abend aufbleiben dürfen. Unfair, dass ich niemanden um Erlaubnis bitten muss, wenn ich Netflix schauen will. Unfair, dass ich Chips essen darf, wann ich will. Unfair, dass sie keine mehr essen darf, weil sie gerade Zähne geputzt hat. Unfair, weil sie in der Früh bei strömendem Regen eine Regenjacke anziehen muss. Unfair, weil ich morgens neben ihr auch meine Zähne putze und ihr das Waschbecken nicht ganz überlasse und eh unfair, dass sie noch nicht tun und lassen kann, was sie will. Zum Beispiel so viel Zitronen-Limonade trinken, wie sie mag. Das ganze Leben ist unfair. Und wir sind die schlimmsten Finger im ganzen Spiel. Denn wir bevorzugen Bruno und benachteiligen sie. Unentwegt. Wir sind die Träger der Unfairness, die fleischgewordene Unfairness. Godmother and Godfather of Unfairness.
Ich habe mal in alten Beiträgen geschaut. Da blitzte es immer wieder auf. Unfair. Bereits in #62 und den Haustieren und bei #75 und der Glotzerei. Es wird nur leider immer schlimmer. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Kürzlich schlug sie vor, dass einfach mal jemand bei uns heimlich einziehen müsse. Die Person solle dann mal mitlaufen und uns still und leise beobachten. Das wäre ihr größter Wunsch. Ein Fremder sollte mal das alles hier bei uns bewerten. Neutral. Da würde nämlich endlich mal die ganze Unfairness ans Licht kommen und aufgedeckt werden. Die ganze Benachteiligung in ihrer kompletten Pracht, die wir ihr tagtäglich antun. Das muss man sich mal vorstellen, ein bezahlter Familien-Beobachter…
Ich nehm mir die Sache ja durchaus auch zu Herzen. Wir Eltern grundsätzlich und vor allem ich, wir wollen ja eins nicht sein: Unfair und ein Kind bevorteilen. Das ist der Trigger des schlechten Gewissens. Vielleicht ist ja doch was durchgerutscht oder hat sich eingeschlichen? Und am Ende schieße ich wider besseren Wissens einen Fairness-Bock nach dem nächsten. Aber mal unter uns, Hand aufs Herz und den Igel aus der Tasche: Selbst wenn wir hier so einen externen Consultant einmal mitlaufen lassen und wir ein Klappbett für ihn im Keller aufstellen würden, bin ich felsenfest der Überzeugung, Hanni würde auch diese Studie anzweifeln. Denn auch die Beratungsfirma wäre dann eine Sache: Hochgradig unfair! Und dann müsste der nächste Situations-Einschätzer kommen und die Chose fände kein Ende. Nein, nein, dann halte ich das lieber aus. „Ja Hanni, ich esse jetzt um 22 Uhr noch Chips! Weil ich 47 bin und schlichtweg Lust darauf habe! Und nein, das ist nicht unfair. Das ist schlicht und ergreifend die Freiheit des Alters!“
Bruno und ich hören: Motorpsycho „Blissard“ (Stickman Records)