Eintracht
Vor einer Woche war das Pokalfinale in Berlin. Gleich mal vorweg und um den Zünder zu kappen: Ich war nicht dort. Ich hätte aber dort sein können. Beim Pokalsieg der Eintracht. Das ist die große Tragik dieses Beitrags. Dabei im Olympiastadion. Ganz nah bei dem Verein, der mir alle Gründe, den Fußballsport wieder zu lieben, gegeben hat. Das ist das Entscheidende an der Geschichte. Nämlich, dass ich eben nicht in der Kurve stand, sondern mittags um Zwölf bei Ranzen Lassner in Frankfurt. Für den Schulranzen-Kauf meiner Tochter. Nochmal für’s Protokoll: Bei Ranzen Lassner! Herrgott. Ich weiß nicht, was in meinem Kopf falsch gefunkt hat. Darum geht es hier. Warum ich nicht hingefahren bin. Unter der Rubrik zu fassen: „Fatale Entscheidungen als Vater“! Und da ist er, der blitzgescheite Flachpass zum Neverending Vatertag. Wie Boateng auf Rebic. In der elften Minute.
Seit diesem Samstag sind einige Tage vergangen. An jedem einzelnen Tag denke ich daran, dass ich nicht dort war. Ach was. Ich denke jede Stunde mindestens einmal daran. Es wurde ein bisschen weniger mit dem Schmerz. Tag für Tag. Für’s bloße Auge allerdings kaum zu erfassen, dieser Rückgang. Ich könnte immer noch die Wände hochgehen und die Katze des Nachbarn am Schwanz auf die Spitze des Kirschbaums hängen. Deshalb schreibe ich es auf. Ich als Text. Um nicht zu im- oder zu explodieren. Da hätte ich früher auch mal kein Jeans-Sparbuch drauf verwettet, das Jochen Distelmeyer nochmals für die Eintracht herhalten muss. Dinger gibt es.
Ich habe mein Leben lang auf dieses Erlebnis gewartet. Mich genau nach diesem Augenblick absoluten Fußballfan-Glücks gesehnt. Mein persönlicher Rocky-Balboa-Moment. Ich habe ihn ziehen lassen. Leichtfertig und aus falscher Vernunft. 30 Jahre. Kein Titel. Der FC Bayern so überheblich, großmäulig, ignorant und arrogant wie wahrscheinlich noch nie. Übermächtig. Aber selbstgefällig. Apollo Creed eben. Dazu ein Frühsommertag in Berlin und die sichere Möglichkeit ins Stadion zu kommen. Eine Mannschaft wie eine wilde Bahnhofsviertel-Gang. Aber von der guten Sorte. Zu allem fähig. Eine Zugfahrt von knapp vier Stunden entfernt. Ich hätte mich nur in irgendeinen verfluchten Zug Richtung Hauptstadt setzen müssen. Es ist, als hätte Salma Hayek an meine Tür geklopft und mit mir Eis essen und hinterher Rum mit Cola trinken wollen. Ich aber hätte gesagt: „Salma, lass mal gut sein, ich muss jetzt gleich Bruno von der Krabbelstube abholen und dann noch für die Familie einkaufen, das schaff ich heute einfach nicht mehr.“ Blödsinn. Auch dieser Vergleich hinkt völlig. Es ist viel schlimmer.
In meinem Leben als Vater habe ich etliche, gefühlt richtige Entscheidungen getroffen. Auf einiges verzichtet, dass mir im Nachgang keinen feuchten Flunsch gefehlt hat. Ich verbringe gerne Zeit mit meinen Kindern. Sehr gerne sogar. Und muss nicht mehr jeden Bock durch den Garten jagen. Das meine ich so. Ganz ehrlich und aufrichtig. Keine Finger hinter’m Rücken über Kreuz. Aber diese Entscheidung war komplett falsch. In meinem Lebensranking der falschen Entscheidungen liegt sie – Stand jetzt – auf Platz 1. Ich traf sie aus einem völlig falschen Verständnis väterlichen Verantwortungsbewusstseins heraus. Ich verwette meine erste Bad Religion-Platte: Mein Vater wäre gefahren! Er hat als Vater viele Dinge nicht immer glorreich erledigt, aber hier hätte er genau das richtige getan. Nur mal so.
Natürlich hätte ich mir gewünscht, meine Frau hätte gesagt „Ralph, fahr! Bring den Pokal mit.“ Aber das ist zu einfach. Meine Frau sagt selten oder so gut wie nie „Fahr! Bring den Pokal mit“ Sie sagt zu 90 Prozent immer „Bleib da. Was willst Du denn in Berlin? Letztes Jahr haben sie verloren, dieses Jahr kommt es bestimmt genauso. Dann hängst Du wieder da, wie ein Schluck Wasser in der Kurve.“ Ich hätte schlichtweg fahren müssen. Völlig wurscht, wer was sagt. Miese Stimmung zu Hause? So ist es eben, das Leben. „Manchmal isst Du den Bären. Manchmal isst der Bär dich.“ Sagt im Big Lebowski Sam Elliott als einsamer Cowboy. Diesmal hat der Bär mich gefressen. Astrein. Komplett.
Ich stand in der Früh auf dem Parkplatz des lokalen Supermarkts und hatte die feste Gewissheit, dass heute Großes passiert und ich gerade am völlig falschen Ort dafür bin. Ich war mir selten so sicher. Dann war es zu spät und ich fuhr zu Ranzen Lassner. In der Woche zuvor dachte ich: Es ist Pfingsten, bleib einfach mal bei der Familie, ich war erst in Berlin und außerdem wird es bestimmt nix. Die Bayern, die Eintracht, am Ende guck’ ich doch wieder in die Röhre. Aber es war falsch und es waren nicht meine echten Gedanken. Sie waren eingepflanzt. Durch eine subtile Gehirnwäsche, vermute ich. Ich wollte die ganze Zeit fahren und war zu benebelt vom Vatersein und dem Zurückstecken. Und wenn irgendeine Mutter oder sonst jemand jetzt meint, das wäre doch auch eine tolle, weil für die Familie getroffene, Entscheidung und will mich dafür loben und ehren, der oder dem sage ich: Thank you. Ich nehme den Preis nicht an. Es ist nämlich eine Ehrung für einen Hornochsen!
Als Gacinovic alleine auf die Kurve zustürmte, nach diesem phänomenalen Coast to Coast-Lauf und den Sieg perfekt machte, trug ich meine Tochter durch das Haus des Nachbarn. Doch ich bin ehrlich: Noch lieber hätte ich in diesem Augenblick einen völlig wildfremden Eintracht-Anhänger im durchgeschwitzten Höchst-Trikot im Arm gehabt. Hanni war eine gute zweite Wahl, vielleicht die beste zweite Wahl der Welt, aber eben nur die zweite. Ich war bei der Geburt meiner beiden Kinder im Kreißsaal. Aber nicht bei Rebics Sternstunde und dem Pokalsieg. Nach den beiden Geburten wäre Platz drei diesem Augenblick reserviert. Fast ganz sicher. Und das muss ich jetzt nicht weiter ausführen. Wer das immer noch nicht begreift, soll Christian Spillers famosen Beitrag „Das perfekte Tor“ auf zeit.de lesen. Besser bekomme ich das auch nicht hin. Hilft aber alles nix.
Ich kann nur draus lernen und mir Vorsätze machen. Ich werde die Europa-League-Spiele live schauen und Auswärtsfahrten im Familienkalender eintragen. Es wiegt das Verpasste nicht auf. Niemals. Aber irgendwas muss ich unternehmen. Hanni und ich gingen am Tag danach auf den Römer und warteten über drei Stunden auf die Mannschaft. Auf dem Heimweg sagte sie leicht beschwingt vom Erlebten zu mir, sie wünsche sich zum sechsten Geburtstag ein Eintracht-Trikot und außerdem würde sie ihr anstehendes Fest gerne als Eintracht-Party feiern. Das ist schön und freut mich sehr. Am Ende allerdings auch nur ein schwacher Trost. Leider.
Bruno und ich hören: Frank Turner „England Keep My Bones“ (Xtra Mile Recordings)