Als ich den Skittles-Aufkleber auf dem Globus entdeckte, wurde mir nachhaltig klar, dass bei meinem Sohn Hopfen und Malz verloren ist. Wirklich und in Gänze. Grundsätzlich vorab und zur allgemeinen Einstimmung: Dieser Beitrag läuft massiv Gefahr, dass ich bereits Geschriebenes wiederhole. Allein, ich muss es tun, um zu verarbeiten. Wieder einmal. Wie so häufig. Und um Abschied zu nehmen von einer Hoffnung, die ich noch vage hatte.
Daneben ist dieser Beitrag auch ein Teil einer mehr als kritischen Selbstreflektion. Eines Nachdenkens über mich als Kind. Wie ich so war und wie groß die Tragik ist, dass ich nicht jemanden hatte, der mich stoppen wollte oder konnte. Aber wäre ich überhaupt zu bremsen gewesen? Mein Sohn ist ja auch nicht zu stoppen. Er macht einfach weiter und hört nicht auf mich. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Zurück zum Start: Da klebte also der Skittles-Schrifzug mitten auf dem Globus. Ohne Not. Quer über Nordamerika, Grenze Kanada. Es gibt keinen Grund auf der Welt, hier einen Aufkleber zu platzieren. Keinen ästhetischen oder künstlerischen. Okay, einer fällt mir ein. Die Marke Skittles beziehungsweise deren Produkte sind wohl Teil der Firma Wrigley, die wiederum ihren Sitz in Chicago, Illinois, hat. In diesem Gebiet klebte grob das Skittles-Emblem. Wrigleys gehört aber wiederum mittlerweile zu Firmengruppe MARS, die in Tacoma, Washington, angesiedelt ist. Und weil das alles so verschachtelt ist, verwette ich meinen Hintern, dass mein Sohn den Aufkleber nicht aus diesem Grund dort angebracht hat.
Er hat nämlich weder Ahnung, noch irgendein frühkindliches Interesse an verzweigten Firmenübernahmen oder wie der globale Kapitalismus so funktioniert. Es kann aus meiner Sicht auch kein Schulprojekt sein. In den ersten vier Klassen ist das noch kein Thema. Skittles klebte da also völlig sinnfrei. Wie kürzlich der Eintracht-Aufkleber mitten auf der Vase im Flur. Oder die doppelten EM-Sticker auf der kompletten Fläche seines Arbeitstisches. Ohne Grund. Weil es ihm völlig egal ist. Weil er schlichtweg nicht so an den Dingen hängt.
Mir fiel das mit dem Aufkleber auch nur auf, weil wir es uns zur Aufgabe gemacht hatten, sein Zimmer neu zu streichen, umzustellen und auszumisten. Duplo-Bausteine wegsortieren und alle Paw-Patrol-Fahrzeuge für den Weiterverkauf vorbereiten. Das Alter macht auch bei ihm nicht Halt und neue Leidenschaften halten Einzug. Da rutschte uns der Globus mitsamt dem Skittles-Emblem in die Finger. Übrigens: Das mit dem Zimmer, der ganzen Umstellerei und dem neuen Style nahm Bruno nur beiläufig zur Kenntnis. Er goutierte es wohlwollend mit dem Daumen nach oben und ging dann zu seiner einzigen Beschäftigung über, die er wirklich mit Hingabe verfolgt: Fußball. Danke auch dafür. Waren nur zwei Urlaubstage für meine Frau und mich. Aber wir hätten es wissen müssen. Er hängt nicht an Materiellem und schonmal gar nicht bewegen Dekorations- oder Stilfragen sein sonniges Gemüt.
Mir blutete dagegen mehrfach das Herz. Die Playmobil-Zurück-in-die Zukunft-Reihe? Komplett zerlegt, hier ein bisschen Marty McFly, da ein wenig Equipment von Doc Brown. Der Lego-Star-Wars-Falke? Auseinandergebaut, Han Solo war nicht mehr zu finden. Vom Paw-Patrol-Schiff fehlte der Kran und bei vielen Großfahrzeugen war mindestens ein Reifen verschwunden. Der wurde wahrscheinlich vom Hund gefressen, den wir nicht haben. Wenigstens tauchten alle relevanten Figuren vom Polizeieinsatzwagen auf. Irgendwann und irgendwo. Ich habe versucht, meinem Sohn bereits in ganz jungen Jahren einzubläuen, dass diese Dinge irgendwann einmal Sammlerwert haben und er gut damit umgehen und vor allem auf Vollständigkeit achten soll. Die Spielsachen von heute sind nämlich der Krügerrand von morgen, sozusagen. Sage ich und falls noch jemand den Krügerrand kennt.
Er hat es nicht verstanden. Oder völlig falsch. Aber was erwarte ich. Denn in meiner Trauer und wirren Suche nach Han Solo dachte ich an meine jungen Jahre. Und da fiel mir ein, dass ich einst als Kind auf dem weitläufigen Grundstück meiner Großmutter Kunigunde – sie hieß wirklich so – meinen Evel Knievel samt Motorrad vergrub. Ich weiß bis heute nicht, was mich für diese Tat geritten hat. Und ich weiß noch weniger, warum ich ihn nie wieder ausbuddelte. Vielleicht wollte ich ihn nur verstecken und für die Nachwelt sichern. Wenn ja, ging dieser Plan gründlich in die Hose. Oder vielleicht sogar radikal auf, wenn irgendwann die Nachbesitzer auf diesen Fund stoßen, sich wundern, ihn säubern und auf Ebay zu Gold machen. Ich glaube aber vielmehr, dass Evel Knievel samt Motorrad in einem Container Baumischabfall gelandet ist. Einigen wir uns also auf gründlich in die Hose!
Die Frage ist aber vielmehr: Hätte mich mein Vater damals abhalten können? Oder meine Großmutter mit Spitznamen Kuni? Ich sage eindeutig nein. Denn ich hing als Kind wohl auch nicht so sehr an den Dingen, befürchte ich. Ich zerlegte meine Big-Jim-Figuren, steckte Kracher in so manches Playmobil-Auto, nur um eine möglichst realitätsnahe Explosion zu erleben und verlieh meinen Gameboy, ohne je wieder danach zu fragen. In diesem Sinne und in Erinnerungen schwelgend setzte ich mich mit Geduld vor Nordamerika, zog mit höchster Vorsicht den Skittles-Aufkleber ab und stellte den Globus zurück ins Regal. Mein Sohn wird den Unterschied nicht im Ansatz merken. Es ist ihm nämlich egal. Völlig egal.
Bruno und ich hören: The Strokes „Room on Fire“ (RCA Records)