War jemand der Leserschaft dieser Reihe schon mal in Baunatal? Ich schon. Und ich will die Gelegenheit nutzen und mich aufrichtig bei meinen Kindern bedanken. Dank ihnen komme ich an Orte, die mir niemals im Traum für einen Besuch einfielen. Manche kannte ich vom Hörensagen, andere aus Liedern. Bei wieder anderen – Fußballplätze in bestimmten Wohngebieten beispielsweise – wusste ich gar nicht, dass es sie überhaupt gibt. Bei Baunatal wusste ich, es existiert. Aus meinen Kinderzeiten und Besuchen der Heimspiele der Viktoria Aschaffenburg war mir der Fußballverein vage in Erinnerung. Erst später wurde mir klar, dass Baunatal sinnbildlich in Hessen für so etwas wie „am Arsch der Welt“ steht. Denn während die Eintracht international spielt, fährt der OFC nämlich nur nach Baunatal. So geht ein Fangesang in der Kurve der SGE. Auch ich fahre gemeinsam mit meiner Frau nach Baunatal. An einem Samstag. Und zwar bereits um 7 Uhr in der Früh zum Ausscheidungswettkampf meiner Tochter in der Sportakrobatik. Und das auch noch mit einem Teil ihrer Eintracht Sportakrobatik-Truppe auf der Rückbank. So ganz stimmen die Gesänge im Stadion wohl auch nicht mehr.
Ich muss bei diesem Beitrag aufpassen, denn er kann in viele Richtungen steuern. Ich versuche mal drei Seitenstränge schnell abzuhandeln. Damit ich mich nicht vollends verliere. Thema eins: Mein väterlicher Stolz, als meine Tochter in der Früh in der kompletten Eintracht-Montur zum Wettkampf bereitstand. Eintracht Frankfurt. Vom Scheitel bis zur Sohle und zum Equipment und zurück. Verdammte Hacke. Dass ich das mit Anfang 50 noch erleben darf. Ich könnte heulen vor Glück. Thema zwei: Meine Frau und ich besuchen selten gemeinsam die sportlichen Aktivitäten, sondern teilen uns auf. Damit kein falscher Eindruck entsteht. Mir persönlich sind Eltern, die bei jedem Torwandschießen der Kinder treu im Doppel aufkreuzen, in der Regel suspekt. Thema drei: Sportakrobatik. Ich kannte diese Sportart nicht wirklich und sie steht meinen sportlichen Talenten komplett diametral entgegen. Ich wäre nach einer halben Stunde Training mit Halswirbelbruch oder mindestens Bandscheibenvorfall in der Uniklinik. Zu allem Überfluss sind alle Mädchen an den Wettkampftagen so grell geschminkt, als gelte es einen Modelwettbewerb zu gewinnen. Aber in Bulgarien 1992. Ästhetik oder Stil dieser Disziplin sprechen mich im Gesamtpaket so sehr an wie beispielsweise Synchronschwimmen. Aber egal. Wenn die Hessenmeisterschaft ruft, fahren wir nach Baunatal. Genau wie der OFC!
Wir verbringen an diesem Tag fast zehn Stunden in der Rundsporthalle Baunatal. Für eine Kür meiner Tochter, die knapp zweieinhalb Minuten dauert. 600 Minuten für 150 Sekunden. Dieser Deal gehört zweifelsfrei nicht zu den besten in meinem Leben. Dafür fahren wir noch zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück. Als wir am Abend gegen 21 Uhr wieder in Frankfurt ankamen, fühlte ich mich so erschöpft, als habe ich den ganzen Tag die kniffligsten Rätsel der Welt gelöst. Oder als wäre ich nochmals unverhofft durch meine Abiturprüfung geprügelt worden. Hier ist es nur maximale Erschöpfung durch Rumsitzen in einer Halle, die an keiner Stelle eine gemütliche Ecke bereithielt. Und in der es noch nicht einmal Apfelwein zu kaufen gab. Ich wurde von Stunde zu Stunde müder und schlapper. Ich konnte noch nicht einmal einen Mittagschlaf machen, denn das erlaubte die gesamte Szenerie nicht. Und hätte ich meinem inneren Drang nachgegeben, meine Tochter wäre für immer diejenige gewesen, deren Vater als einziger in der Halle eine Tasse Schlummifix zu sich genommen hätte. Das konnte ich ihr nicht antun. So viel war mir trotz Erschöpfung sonnenklar.
Meine Frau hatte an diesem Tag weitaus mehr Disziplin und Stärke als ich. Ihr war nichts anzumerken. Sie unterhielt sich sogar mit einigen anderen Müttern und Vätern. Die alle topmotiviert schienen. Im Gegensatz zu uns beiden und vor allem zu mir. Ich sprach mit niemandem außerhalb der Kernfamilie und den Kinder, die bei uns im Auto saßen. Wie gesagt, mir war die ganze Szenerie sehr fremd. In der Halle war sogar eine sogenannte Kiss & Cry Area vorbereitet. Seit Katharina Witt und ihrer Trainerin Jutta Müller sind mir diese Zonen ein Begriff, als Ort, an dem die Athleten ihre Punkte genannt bekommen. 1988 hatten sie jedoch keinen Namen. Zumindest keinen so bescheuerten. Niemals dachte ich daran, meine Tochter einmal in einer Kiss & Cry aufzufinden. So läuft es manchmal im Leben.
Um zumindest ein wenig Zeit totzuschlagen, besuchte ich das Stadtzentrum von Baunatal. Oder zumindest das, was ich für das Herz dieser Stadt hielt. Baunatal ist eine Stadt mit einer recht jungen Geschichte. Und mit einer beeindruckend geschlossenen 70er und 80er Jahre Architektur. Da gab es allerhand zu bestaunen. Nach Jahren des Wirtschaftswachstums und vor allem der VW-Blüte hängt Baunatal mittlerweile etwas in den Seilen. So ein bisschen „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“-mäßig. Für die Literaten und Bertold Brecht Fans unter uns. 2024 steht die halbe Einkaufspassage leer und selbst in der Pilsstube war um 12.30 Uhr noch kein Betrieb. Das mit dem Apfelwein wird heute nichts mehr. Hatte ich so im Gefühl. Zur Unterstützung der lokalen Wirtschaft kaufte ich mir wenigstens eine sehr große „Ahle Worscht“ – eine Wurstspezialität aus Nordhessen und einen Laib Brot. Soll keiner sagen, wir Großstädter hätten keinen Sinn für das Land. Dann begab ich mich wieder in die Halle. Gut sieben weitere Stunden lagen ja noch vor mir. Meine Frau freute sich, mich wieder zu sehen. Meiner Tochter war es völlig egal. So viel zur Wertschätzung unseres Aufwands von 14 Stunden.
Dieser Beitrag hat vielleicht an manchen Stellen seine Längen? Oder langweilt am Ende den ein oder die andere sogar? Na dann. Genau so war mein Tag in Baunatal. Auf einem Ausscheidungswettkampf in der Sportakrobatik meiner Tochter.
Bruno und ich hören: Team Scheisse „042124192799“ (SoulForce/BMG)