Heute beim Abendessen fragte mich meine Tochter, ob ich ihr jemals im Leben Stagediving verbieten würde. Ich verneinte überzeugt. Völlig selbstverständlich und in meiner Welt komplett eindeutig. Natürlich nicht. Wie käme ich denn auf das schmale Brett, meiner Tochter jemals so etwas wunderbar Wildes wie Stagediving zu verbieten. Ich habe tatsächlich andere Sorgen. Dass sie sich in einem Investment-Banker verliebt, beispielsweise. Oder ihr Herz einem Immobilienmakler schenkt. Fast noch schlimmer. Und diese Typen dann immer an Weihnachten bei uns zuhause auftauchen, über die Feiertage auf der Couch abhängen, uns den Wein wegtrinken und mir am Ende noch die Welt erklären wollen. Furchtbar! Schnell zurück zum Thema.
Ich glaube ja, Stagediving ist bei ihr im Fokus, seit wir gemeinsam bei den Beatsteaks waren. Da wurde nämlich recht ordentlich gesprungen, entsprechend Eindruck machte das und sie staunte nicht schlecht. Hanni und ich hatten eine lange Konzertpause. Corona war – wie für so vieles andere – ebenfalls auch dafür der Grund. Es gefiel ihr im Schlachthof in Wiesbaden über die Maßen und sie fand, dass Arnim Teuteburg-Weiß, der Sänger, ein sehr cooler Typ sei. Auch weil er gut tanzen kann. Na also. Da schaut ihr jetzt recht dumm aus der Wäsche, ihr Spacken aus dem Westend. Meine Tochter. Mein Stolz! Und das sagte sie, obwohl Punkrock und Gitarrenkram gar nicht mal mehr an der Spitze ihrer musikalischen Speisekarte stehen.
Eher im Gegenteil. Und dafür will ich jetzt gar nicht mehr Corona die Schuld, in die nicht vorhandenen Pandemie-Schuhe schieben. Ich vermute vielmehr, dies ist fast der Lauf der Dinge bzw. des Coming-Of-Age ihrer ganz persönlichen Generation. Heute Abend tanzte sie mir wieder einen dieser – mir völlig fremden und unverständlichen – Tik-Tok-Tänze vor. Diesmal zu dem Song „Rolex“ von Ayo & Teo. Ich kannte die jungen Herren Ayo & Teo bislang nicht. Aber sie sind ganz anders als beispielsweise die Beatsteaks. Doch lieber Himmel. Mir immer noch lieber als irgendein Yuppie-Stehgeiger. Von daher alles halbwegs im grünen Bereich.
Aber ich verliere mich schon wieder. Back to Stagediving. Meine Tochter fragte mich, ob ich früher auch „Stage gedived“ bin. „Einmal“ war meine ehrliche Antwort. Ich war auch überrascht, wie wenig ich es in meiner Jugend fabrizierte. Beim Pogen und im Pit war ich treu und gerne mittendrin. Aber beim Sprung von der Bühne fehlte mir immer ein wenig das Vertrauen in die Welt und die Menschen. Vielleicht lag es an dem Umstand, dass bereits während meiner Schulzeit meine Mutter kräftig und regelmäßig einen über den Durst getrunken hat und entsprechend nicht immer bei der Sache war. Das wäre eine mögliche Erklärung. Denn wenn ich mich noch nicht einmal auf meiner Mutter verlassen konnte, wie sollte ich dann einem mir unbekannten Mob vertrauen? Im Gegenzug spürte ich zwar eine sehr tiefe Verbundenheit zu meinen engen Freunden, da diese sich aber nicht geschlossen vor der Bühne versammelten, beließ ich es in der Regel beim Pogo. Das ist eine Theorie. Vielleicht hatte ich auch keinen Bock oder schlichtweg nur die Hosen voll. Das sind zwei andere Optionen.
Während der Unterhaltung kam mir in den Sinn, dass ich meiner Tochter und meinem Sohn – ab einem gewissen Alter wohlgemerkt - höchstwahrscheinlich nur noch äußerst wenig konsequent verbieten würde. Selbst den Umgang mit dem fiesen Sohn eines Unternehmensberaters würde ich schlussendlich wohl nicht mehr untersagen. Ich glaube das rigorose Verbieten bringt irgendwann grundsätzlich nicht mehr viel. Vielleicht sogar gar nichts. Mir fiel ein, dass mein Vater mir auch so rein gar nichts richtig verboten hat. Er hat manchmal nur noch etwas irritiert geschaut. Bei der Wahl meines Studiums, meinen wachsenden Haaren, dem Verweigern von Krawatten oder beim Entdecken der ersten Tätowierung. Das Irritiert-Schauen trieb mich vielleicht sogar noch stärker in eine kurzzeitige aber durchaus intensive Nachdenklichkeit. Denn gegen „Dumm-Kucken“ lässt sich nur überschaubar rebellieren, es macht vielmehr ein schlechtes Gewissen. Da musst du erstmal moralisch drüber kommen.
Ich glaube sogar, dass rigoroses Verbieten nur dann etwas bringt, wenn jemand ein umfangreiches Vermögen, samt Immobilien und Rennpferden oder so zu vermachen hat. Und die Gegenseite – hier die Kinder - maximale Wohlstands-Verlustängste empfinden könnten. Da kannst du möglichweise als Eltern noch „All-In“ gehen. Nach dem Motto „Wehe Sohn, du studierst keine Rechtwissenschaften in Heidelberg, dann enteigne ich Dich und Du wirst in einem kümmerlichen Studentenleben in einer schäbigen Mansarde verrotten!“ oder „Wenn ich erfahre Tochter, dass Du Dir einen Schlangenkopf über den After tätowieren hast lassen, dann wirst Du Deinen Namen niemals auf dem Testament wiederfinden“. So mag das funktionieren. Es kann aber auch vollends nach hinten losgehen und du bekommst Deine Enkelkinder niemals zu Gesicht und dann verrottest du in Deinem Landhaus bei Hamburg oder in Bad Homburg. Verbittert und verknöchert. Da mein Vater aber weder über ein solches Vermögen verfügte noch ihm das Verbieten grundsätzlich leicht von der Hand ging, beließ er es eben beim Irritiert-Schauen.
Bei der Frage zum Stagediving musste ich noch nicht mal irritiert schauen. Vielmehr zufrieden lächeln. Mittenrein in meine Glückseligkeit grätschte allerdings unvermittelt Bruno. Von hinten und ohne Ankündigung. Sollte es mit dem Fußball und der Karriere funktionieren, würde er zum Abschluss der Laufbahn gerne zu Al-Nasser und dem dortigen Fußballclub wechseln. Und von seinem ganzen Geld dann mindestens einen Bugatti kaufen. Da fing mein Schwein aber ganz laut zu pfeifen an und das Grinsen verschwand schneller, als Christiano Ronald schießen kann. Ich glaube, es geht los. Ganz unabhängig davon, dass mein Sohn einen Bugatti noch nicht einmal von einem stinknormalen BMW oder einem Audi unterscheiden kann, kann er sich bei einer Sache sicher sein. „Bruno. Auf eines kannst Du wetten: Das verbiete ich“. Wollen wir doch mal sehen, wer hier am längeren Hebel sitzt. Da musste ich nicht mal mehr irritiert schauen.
Bruno und ich hören: Phoebe Bridgers „Punisher“ (Dead Oceans)