Wir sitzen im Urlaub beim Abendessen und meine Frau erzählt irgendeine Geschichte voller Absurditäten aus ihrer Schule. Falls ich es nicht bereits erwähnt habe, Lehrer und Lehrerinnen erzählen bevorzugt und gerne abstruse Geschichten aus ihrem jeweiligen Schulalltag. Sie können ganze Abendunterhaltungen damit bestreiten. Wirklich. Wiederholt. Eigentlich andauernd. Das tut aber in diesem Beitrag nichts zur Sache. Auf jeden Fall erzählt meine Frau ihre Geschichte und meine Tochter meinte dazu am Ende kommentierend, das fände sie jetzt aber schon ein wenig „cringe“. Ich glaube so ähnlich sagte sie es. „Ich finde das jetzt aber etwas cringe“. Vielleicht war der Wortlaut auch „Das ist jetzt aber etwas cringe“. Möglicherweise auch völlig anders, nur „Oh, cringe!“. Ich weiß es nicht. Der Hauptgrund für mein Unwissen ist, dass „Cringe“ kein Teil meines üblichen Vokabulars ist. Ich verwende den Begriff „Cringe“ nie für etwas. Ich dachte bei „Cringe“ bislang maximal an den „Grinch“. Und das ist für mich ein Weihnachtsfilm mit Jim Carrey beziehungsweise das eigentliche Buch von Dr. Seuss. Überhaupt war mir auch gar nicht bewusst, dass „Cringe“ bereits 2021 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde. So weit ist es mit mir gekommen. Manchmal finde ich mich selbst schon etwas „Cringe“!
Immer wenn wir im Urlaub sind, entdecke ich meine Tochter neu. Das hat aus meiner Perspektive zwei hauptsächliche Gründe: Der eine liegt in meiner vollumfänglichen Arbeit und meinem mittlerweile sehr späten Nachhausekommen. Da wurden alle „Cringes“ zum Leidwesen meiner Frau bereits in den Stunden bis zu meiner Ankunft verteilt und ich sammle am Esstisch nur noch die müden und abgearbeiteten Debatten und Körper des Tages ein. Der andere Grund liegt unzweifelhaft darin, dass ich mit zunehmenden Alter nicht mehr ganz in die Welt meiner Tochter eintauchen kann. Geschweige denn überhaupt noch einen Fuß reinbekomme. Vom Drindauerhaftstehenlassen will ich gar nicht mehr sprechen. So von wegen „Grinch“ und so. Bereits vor gut zwei Jahren erschien der neue „Sprech“ bereits am Firmament. Da war das Wasser in der Bretagne „hart klar“. Damals dachte ich noch, meine Unkenntnis wäre bloß temporär. Ich könne bei all den neuen Begrifflichkeiten schon noch mithalten, wenn ich nur wollen würde. Knapp zwei Jahre später halte ich fest, dass das hanebüchen naiv und randvoll mit Selbstüberschätzung war. Die Wahrheit ist eindeutig: Ich werde schlicht und ergreifend alt. „#Cringe“!
Es sind nicht nur Begriffe wie „Cringe“ oder „Safe“ – „Safe“ fällt übrigens dann, so meine Interpretation des Einsatzes der Begrifflichkeit, wenn Hanni einem Vorschlag begeistert zustimmt. „Hanni, erst machen wir Pizza und dann schauen wir noch einen Film, ok?“ – „Safe!“. Ich verstehe auch mittlerweile einige Alltagshobbys nicht mehr. Zum Beispiel das Einüben von bestimmten Tik-Tok-Tänzen. Die Tanzpassagen dauern vielleicht 20 Sekunden und dann wird die nächste Kurzperformance einstudiert. Ich kann nachvollziehen, dass meine Tochter diese Art des Tanzes mag und selbst mit den Songs im Hintergrund gehe ich irgendwie mit, auch wenn es nicht meine Songs sind. Aber als ich jedoch kürzlich meinte, sie solle doch diese Tanz-Choreo einfach einmal vollständig und bis zum Ende einüben, bekam ich nur entgeisterte Blicke. Meine Frau klärte mich dann auf, dass Tik-Tok und diese Tänze grundsätzlich nur so kurz angesetzt sind. Rein konzeptionell.
Es hat nichts mit dem Vatersein zu tun. It’s ganz simpel the fucking age. Glaubt mir. Die Tochter meines Cousins ist auf dem Weg zur dreifachen Mutter und kommentierte kürzlich eine meiner Kurznachrichten auch mit „Nice“. Sie ist einfach deutlich jünger. Da ruft man viel inflationärer „Nice“ oder ein staunendes „What?“. Nur diejenigen aus meiner Generation, die ein grundsätzliches Thema mit dem Altwerden haben, rufen permanent noch „Nice“ oder „What?“. Meine These. Ich habe mit dem Älterwerden in den letzten Jahren in den allermeisten Fällen meinen Frieden gefunden. Gaukele ich zumindest meiner Umwelt und vor allem mir selbst halbwegs souverän vor. Ich lasse die Sprache, die Tänze und den Stil laufen. Ich finde beileibe nicht alles gut. Vieles befremdet mich auch. YouTube-Shorts, die Rolle von Influencerinnen, die Art des Medienkonsums. Doch im Gegensatz zu Tik-Tok kann ich beispielsweise bei der Kleidung meiner Tochter sogar festhalten: Ich mag in vielen Momenten ihren Stil. Sie trägt Doc Martens und Carhartt-Kappen. Ich glaube, das ist die Mode, die zu einem Wortschatz wie „Cringe“ oder „Safe“ ganz gut passt.
Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit dem Gitarristen von Rage Againt The Machine, Tom Morello. In diesem Interview sagte er viele schlaue Sachen, auch übers Älterwerden und das Verhältnis zu den eigenen Kindern. Vor allem ein Satz blieb nachhaltig hängen. Da meinte er, dass man sich als Vater irgendwann mal aus dem Weg räumen müsse. Verflixt! Das trifft den Nagel auf den Kopf. Sprache, Songs, Medien. Unsere Generation muss vor allem Vertrauen haben und darf nicht treu und beständig Klugscheißen oder alles besser wissen. I know, es ist ein schmaler Grat. Zwischen Laufen lassen, lenken und aktiv eingreifen. Vor allem wenn der Schlund der weiterführenden Schule sie schluckt. Klarer Fall von „Cringe“!
In diesem Urlaub hatten wir eine längere Autofahrt. Nur Hanni und ich auf dem Weg an die Küste. Ich überlegte auf der Fahrt, ob ich nach längerer Zeit wieder einmal ein Vater-Tochter-Gespräch fixieren sollte. Ganz nach dem Motto „Hanni, mir fällt auf, dass du in jüngster Zeit häufiger immer einen Haufen Bockmist auf Youtube anschaust, den ich nicht so ganz verstehe und auch nicht gut finde.“ Nachfragen, bewusst erziehen, eingreifen. Ich vermute, meine Frau hätte das sehr gefreut. Vielleicht sogar zurecht. Dann dachte ich aber an Tom Morello und beließ es dabei, dass wir einfach nur miteinander im Auto saßen. Sie hörte Songs aus meiner Playlist und ich hörte Songs aus ihrer. Und als sie plötzlich kurz vor unserer Ankunft „My Hero“ von den Foo Fighters startete, dachte ich, dass vieles ok ist. Wenn wir genügend Zeit haben und vor allem zu Zweit sind. Dann können wir uns sein lassen. Ich sie und sie mich. Ich werde alt, manchmal vielleicht auch „Cringe“, doch solange wir „My Hero“ hören, werden wir uns nie ganz fremd. Safe!
Bruno und ich hören: Beatsteaks „Smack Smash“ (Epitaph)