Vor kurzem drohte mein Sohn vehement, er würde jetzt gleich mal das „Jugendamt“ verständigen. Die Sache war ihm sehr ernst. Aus meiner Sicht war der Vorfall allerdings ziemlich belanglos. So belanglos, dass ich jetzt schon wieder vergessen habe, worum es eigentlich ging. Ich vermute, ich habe ihm verboten, wie ein Berserker seinen Fußball durch das Wohnzimmer zu donnern. Oder ich wurde – nachdem ich ihn zwölfmal freundlich und äußerst zugewandt aufgefordert habe, seine Zähen zu putzen – vehementer und lauter in meiner Ansage. Vielleicht habe ich ihn auch von seiner dritten Portion Eis weggezogen. Wie gesagt: keine Erinnerung mehr. Ich habe mir in jedem Fall aber wohl das Recht rausgenommen, in dieser Situation meinen Erziehungsstil konfrontativer zu interpretieren. Das stand mir zu. Aus meiner Perspektive zumindest. Aus seinem Blickwinkel ein klarer Fall für das Jugendamt.
Ich habe einen guten Freund, der arbeitet beim Jugendamt. Da dachte ich mir, ich rufe ihn gleich mal an. Sprach es und rief meine Kontakte auf. So von Pädagoge zu Sozialarbeiter. Ich will ja nicht betriebsblind sein und es soll jede und jeder hier in der Familie gehört werden. Also los, wenn schon, denn schon. Andere haben Internisten oder Notare in der engen Bekanntschaft, ich Teamleitungen vom Jugendamt. Das wird ein Spaß. Ich wählte die Nummer und wollte das Telefon an meinen Sohn weiterreichen, doch Bruno bekam schneller kalte Füße, als der bekannte Dackel mit dem Schwanz wedeln kann. Wehe, wenn ich die Nummer wirklich gewählt hätte und ich soll sofort damit aufhören und auflegen. So lautstark er eben noch die stützende institutionelle Hand forderte, genauso so rucki-zucki bekam er kalte Füße. Eben noch auf dicken Max und Kinderrechte gemacht und schon eingeknickt wie ein lumpiger Vorstadtganove beim ertappten Automatenknacken. Gut zu wissen. Seit diesem Vorfall höre ich jetzt schon längere Zeit keinen Ruf mehr nach dem Jugendamt in meinem Haus.
Allerdings fiel mir dafür ein: Ich habe in jungen Jahren niemals nach dem Jugendamt gerufen. Weder mit Zehn noch mit 14 und schon mal gar nicht mit Sechs. Ich verweigerte mal das Tragen einer Krawatte und boykottierte, als meine Eltern mich gegen meinen Willen ins Karate-Training schicken wollten. Mir wäre in den späten Siebzigern vielleicht manches in den Sinn gekommen, aber niemals hätte ich meinem Vater gesagt, dass jetzt mal blitzschnell das Jugendamt verständigt gehört. Ich will das Thema Ämter und Kinderschutz nicht bagatellisieren. Ganz im Gegenteil. Ich wollte alle Kinder dieser Welt hätten die Kraft und vor allem die Chance, ein Jugendamt zu kontaktieren, wenn die Situation mit den Eltern eskaliert. Mir ist entsprechend völlig bewusst: Dieser Beitrag mäandert auf einem schmalen Grat. Aber wie zur Hölle kommt in unserem Fall mein Sohn denn auf das noch schmalere Brett, den Einsatz des Jugendamts zu fordern. Er hat doch nicht mehr alle sieben Sinne beieinander!
In unserer Familie lag und liegt der Sachverhalt nämlich ganz anders. Wir schlagen weder uns noch unsere Kinder, wir geben ihnen genug zu essen und zu trinken, heizen ihre Zimmer, lesen ihnen sogar vor und übernehmen Ehrenämter in ihren Schulen. An jedem Wochentag decken wir den Frühstücks- wie den Abendessenstisch und räumen ihn auch wieder treu ab, wenn alle wohlgenährt sich flugs den eigenen Interessen zuwenden. Handy checken, Freundinnen anrufen, Zusammenfassungen glotzen oder eben den Fußball wie ein Irrer durchs Wohnzimmer donnern. Wir bestücken die Spülmaschine, entleeren sie, reinigen die Bäder, sortieren die Wäsche, fahren auf die Sportplätze und in die Turnhallen dieser Welt. Und wenn wir mal kurz um Mithilfe bitten oder uns die Frechheit rausnehmen, kleine Arbeiten fest zuzuteilen, dann werden diese Tätigkeiten kurz begonnen und unter Nennung fadenscheiniger Argumente einfach abgebrochen. Fassen wir es mal kurz zusammen: Wir Eltern sind nahezu immer der Depp vom Dienst. Und verlieren wir – aus völlig nachvollziehbaren Gründen – einmal verbal die Nerven, wird plötzlich das Eingreifen des Jugendamtes gefordert.
Leute! Wo ist denn eigentlich die Stelle für geschädigte Eltern? Frag’ ich da mal ungeniert? Eine Art Elternamt hätte ich mal gerne. Nein, und keine Stelle, die mich berät und kluge Scheißtipps für meine Erziehung parat hat. Am besten noch garniert mit systemischen Fragestellungen, treu nach dem Motto „Was braucht ihr denn, damit ihr nicht abends um halb neun ausflippt, wenn euer Kind eine Grundsatzdebatte zum Thema Gerechtigkeit zwischen Bruder und Schwester startet“. Meist noch von Sozialarbeitern oder Pädagoginnen, die selbst keine Kinder haben oder die sich nach Geburt des zweiten Sprosses vom Partner getrennt haben. Nein. Ich will eine Stelle, die mir einfach zuhört. Bei der meine Frau und ich einmal unser ganzes Leid vom Stapel lassen können. Die uns sagt „Ja ihr beide, ihr seid wirklich übel dran. Und ihr habt wirklich alles ausgeschöpft, euch beiden kann niemand einen Vorwurf machen!“
Ja! Das will ich hören. Dazu eine Tasse Tee mit Schuss serviert bekommen und wenn ich mich ausreichend ausgekotzt habe, dann müssen meine Kinder genau zu dieser Beraterin oder diesem Berater. Und die oder der geigt ihnen mal ordentlich die Meinung. Ach, was wäre das schön! Stattdessen muss ich mich mit hanebüchenen Vorwürfen auseinandersetzen und meine Kontakte zum Jugendamt auf schäbige Weise ausnutzen. Meine Damen und Herren. Das ist doch kein Zustand.
Bruno und ich hören: Texas Is The Reason „Do You Know Who You Are?“ (Revelation Records)