Seit gut zehn Jahren bin ich jetzt Vater. Seit über sechs Jahren und meiner Elternzeit nochmal einen Zacken intensiver und anders als zu Beginn der Karriere. Spätestens in den letzten fünf Jahren verfolgen mich allerdings Rätsel und Mythen. Ich stolperte und falle immer noch über sie im Alltag, sie begegnen mir in gewöhnlichen Augenblicken, manche wurden zur Normalität, was ihr befremdliches Erscheinen nicht besser macht, andere verblüffen mich jeden Tag aufs Neue. Weil sie prominent auf der Matte stehen und sich nicht abschütteln lassen. Und weil es manchmal hilft, belastende Dinge zu teilen, schenke ich ihnen einen Vatertag. Es sind allesamt Rätsel ohne Aufklärung. Zu manchen habe ich eine stille These, die meist so wacklig ist, wie die Abwehr eines verunsicherten Tabellenletzten in der Kreisliga Süd. Die meisten lassen mich ratlos zurück, wie die Schlagzeilen der BILD-Zeitung. Nach all den Jahren stehe ich immer noch vor ihnen, als wäre ich ein Schuljunge am Nachmittag des Heiligabends. Kurz vor der Bescherung. Oder so ähnlich. Dieser Neverending Vatertag ist also eine Art „Galileo-Special“. Ganz ohne Pro7 oder Uni-Seminar.
Rätsel: Wieviel Sand geht überhaupt in ein Paar Kinderturnschuhe der Größe 32? Die Größe der Schuhe ist übrigens völlig wurscht bei der Fragestellung. Aber jede Woche im Sommer ereignet sich in der Früh kurz vor Aufbruch in alle Institutionen das Szenario, dass allesamt ready steady startklar für den Aufbruch sind, nur Bruno nicht. Denn der kommt plötzlich nicht mehr in seine Turnschuhe. Zu klein, zu eng und überhaupt. Ganz plötzlich und einigermaßen überraschend. Die Schuhe sind gerade mal vier Wochen alt. Nach eingehender Prüfung kippe ich ein halbes Kilo Sand auf den Flurboden und los geht’s. Aber wie kommen eigentlich immer diese Unmengen an Sand in einen Schuh und wieso störten am Vortag diese Massen beim Abmarsch nach Hause noch keinen Mensch einen feuchten Furz? Aber die Frage ist ja vielmehr: Wieviel Sand passt überhaupt in ein Paar Kinderschuhe, wenn noch ein Fuß dazu muss? Ehrliche Antwort: Ich weiß es nicht. Unmengen.
Rätsel: Warum haben ausgerechnet Pferde immer so saudumme Namen? Meine Tochter hat die Pferde-Phase vergleichsweise schnell überwunden, schneller zog hier im Haus fast nur die „Anna-und-Elsa“-Periode über unsere Köpfe hinweg. Viel „Bibi & Tina“, eine begrenzte Zeit Reitunterricht, eine ordentliche Ladung Schleich-Pferde, eine Reiterfreizeit auf der Tannenhof-Ranch im Odenwald und jetzt ist der Drops weitestgehend gelutscht. Hoffe ich. Und trotzdem bleibt die Faszination Pferd schlummern. Und mir im Sinn, dass diese Tiere meist so heißen: Cheyenne, Storm, Thunder, Flecki oder Blitz. Ich musste sogar regelmäßig die Frage beantworten, welchen Pferdenamen ich schöner fände: Cheyenne, Blacki oder wasweißich. Eine Frage ähnlich wie die, welchen Fußballclub ich schlimmer finde: RB Leipzig, Hoffenheim oder den 1.FC Köln. Ich hasse alle drei abgrundtrief. Warum hören Pferde nicht auf so klangvolle Namen wie John-Ross Jr., Rocky Balboa, Pamela-Sue-Ellen oder einfach Franz oder Maria? Auch auf diese Frage bekomme ich keine Antwort.
Rätsel: Warum schmeckt das Essen zuhause nicht? Ich finde, meine Frau und ich machen in den eigenen vier Wänden keine uncoole Kinderküche. Ganz im Gegenteil. Burger, Wraps, Pizza sind regelhafter Gast auf der nicht geschriebenen Speisekarte, aber wehe dazwischen kommt normaler Kram. Pfui, ekelhaft, schmeckt mir leider gar nicht. Was bei der einen noch halbwegs funktioniert, will der andere nicht mehr und umgekehrt. Selbst meine Burger, von vielen Gästen des Hauses geliebt und gefeiert, schiebt Bruno mittlerweile nach einem Biss weg. Es täte ihm sehr leid, aber im Laden schmecken sie ihm einfach besser. Ja, Herrgott! Im Kindergarten und Hort die besten Esser mit dreimal Nachschlag, zuhause ein einziges Fiasko. Wer weiß warum? Ich nicht.
Rätsel: Warum wird das Pausenbrot nie ganz gegessen? Bleiben wir beim Essen. Die Story hat Geschichte in meiner Familie, denn meine Mutter war zwar eine überschaubar gute Köchin, aber sie zauberte immer völlig verrückte Pausenbrote aus dem Hut. So crazy und inspiriert, dass sie mich völlig überforderten und ich die Brote regelmäßig zum Tausch anbot. Ich wollte Salami, Presskopf, Schinken, Gouda, sie machte Kräuterquark mit Radieschen und Gurken. Dabei waren wir noch nicht mal Vegetarier in unserer Familie. Aus der Geschichte lernen heißt eines meiner Lebensmottos, deshalb gibt es bei mir klassische Brote mit Käse und Wurst. Hilft nur nix, auch die gehen angebissen, halbgegessen, in vielen Fällen jungfräulich zurück aufs Haus. Nutella auf Weißbrot scheint mir die einzig sichere Nummer zu sein. Aber auch da: Warum bleibt der Brotrand eigentlich immer liegen?
Rätsel: Wo ist der zweite Socken? Und noch absurder: Warum taucht er ein Jahr später an einer mir völlig unerklärlichen Stelle wieder auf? Ganz plötzlich, wenn ihn niemand mehr braucht, weil dann zu klein oder der Partner mittlerweile aufgrund Kapitulation entsorgt? Ich habe in meinem Leben ab und an Strümpfe verloren, aber noch nie war es der Fall, dass sich mehr Einzelexemplare als Pärchen in einem Schrank zusammenfanden. Der alte Gag, dass die Maschine diese frisst, stimmt nicht, denn eine Maschine kann keine Strümpfe essen und sie tauchen ja wieder auf, nur Monate später. Aber wo sind sie geblieben? Und was machen sie in der Zwischenzeit. Einen auf Pierre Richard. Einfach Bruno zwei Verschiedene anziehen? Oder als Geschäftsmodell ein Socken-Trio auf den Markt werfen?
Rätsel: Warum schieben alle Familienmitglieder immer alles vorne in die Garage rein? Ich mühe mich redlich, erkläre ausgewiesene Plätze für alle Fahrgeräte. Kettcar hier, Hannis Fahrrad dort, hier Platz für meine Vespa lassen. Könnte alles so einfach sein. Alle 14 Tage nehme ich das Projekt „Aufgeräumte Garage“ in Angriff, zwei Tage später empfängt mich eine Wall of Everything und hinter dieser Wand befindet sich eine halbleere Garage. So ging es Sisyphus mit dem Stein. Es ist ein griechisches Drama, ich werde daran scheitern, ich weiß es und eines Tages weinend final in die Knie gehen.
Rätsel: Warum finden andere Kinder mich noch witzig, meine Tochter aber überhaupt nicht mehr? Ich habe es wiederholt in dieser Reihe thematisiert, es bleibt dabei: Die Nachbarstochter haut sich weg bei meinen Gags, meine Tochter empfindet sie als Vorstufe zum nahenden schäbigen Altherrenwitz. Ich glaube, ich bin sehr lustig und humorvoll, aber langsam komme ich ins Grübeln. Eins, zwei Polizei, drei, vier, Grenadier, fünf, sechs, alte Gags, sieben, acht, gute Nacht!
Rätsel: Warum platzen von den sündhaft teuren 333 Wasserbomben bereits 222 beim Befüllen? Kurz vor den anstehenden Kindergeburtstagen hole ich den Igel aus der Tasche und kaufe die Super-Bomben: Ein Aufsatz für 111 Wasserbomben. Den Packen für 15 Euro. Oder so ähnlich. Dann drehe ich am Wasserhahn und schon macht es pitsch, paff, peng und die Hälfte ist zerplatzt. Und kaum ist der erste Gast im Haus, geschweige denn der erste Hot Dog verdrückt, sind zwei Drittel der Wasserbomben endgültig über den Jordan gegangen. Sofern Wasserbomben überhaupt über den Jordan gehen können. Ist aber auch völlig egal, denn die Frage ist: Wollt ihr mich alle verarschen? Selbst der Patentante aus Zürich gelang keine bessere Erfolgsquote, als ich ihr das Befüllen übergab, und die ist technisch und handwerklich außerordentlich begabt.
Rätsel: Warum ruft jedes Kind aus dem entferntesten Raum im Haus lauthals nach dem anderen Kind oder uns Eltern, anstatt den Arsch mal ein paar Meter zu bewegen? Es ist furchtbar. Wir leben nicht üppig, aber auch nicht auf 50 Quadratmetern. Wann zum Teufel, hat diese Unsitte Einzug gehalten, dass man sich nicht mehr physisch aufeinander zubewegt? Sondern stattdessen im Zimmer hockt und lauthals „BRUNOOOO!“ ruft, auch wenn der derweil im Keller hockt. Und wenn er nach dreimal „BRUNOOOO“-Blöken nicht auf der Bildfläche erscheint, nicht – was naheliegend wäre – mal selbst den Zuckerhintern durchs Haus bewegt, sondern einfach noch lauter weiter schreit „BRUNOOOOOOO!“: Ich raste bald noch aus.
Und final ganz frisch ein Rätsel, das sich wahrscheinlich über zehn Jahre entwickeln konnte, dessen Rätselhaftigkeit sich aber vor mir erst just in diesem Urlaub entblätterte: Warum bittet mich meine Tochter dauernd, ihr die Schokoflakes aus der Küche zu holen, obwohl sie näher am Tischende und zur Tür sitzt? Die Schokoflakes sind hierbei Platzhalter. Für das Wasser, den Apfelsaft, die Mayonnaise, die Butter, das fehlende Besteck und was weiß ich. Manchmal bitten mich meine Kinder auch, ihnen die Milch zu geben, obwohl sie am Tisch direkt vor ihrer Visage steht. Und oftmals stand ich automatisch auf und holte den Kram, weil ich auf die Vernunft und den Geist setzte. Und mir sicher war, es gäbe einen handfesten Grund, warum sie sich selbst nicht bewegen. Die Wahrheit ist aber, dieser Grund existiert nicht bzw. es gibt nur einen: Faulheit! Seit ich diesen Reflex erkannt und gebrochen habe, verweigere ich jeden Kellner- und Bringdienst. Mit Erfolg. Sie probieren es trotzdem weiter. Ich bleibe aber seit kurzem fett auf meinem Hintern sitzen.
Bruno und ich hören: The Gutter Twins „Saturnalia“ (Sub Pop)