Dieser Beitrag steht in engem Zusammengang mit #49 Berlin. Zwischen diesen beiden Vatertagen ist eine Art mystisches Band gespannt. Eine transzendente Erfahrung, übersinnlich, fast schon religiös. Erst in der kombinierten Lesung entfalten diese Texte ihre eigene Dimension. Wer mag, schaut zurück. Und diesmal: Not in Anger. Das Leben hält manchmal wunderbare Twists bereit.
Vor über sechs Wochen war das Europa League-Finale in Sevilla. Gleich mal vorweg und um das Spaceshuttle zu zünden: Ich war dort. Beim Europa-Pokalsieg der Eintracht. Das ist der große Glanz dieses Beitrags. Dabei im Estadio Ramón Sánchez-Pizjuán. Ganz nah bei dem Verein, der mir alle Gründe, den Fußballsport wieder zu lieben, gegeben hat. Das ist das Entscheidende an der Geschichte. Nämlich, dass ich diesmal eben nicht mittags um 13 Uhr bei Ranzen Lassner in Frankfurt stand, sondern mit einem eiskalten Cerveza in der Hand mitten in der Altstadt von Sevilla vor der Bodega Santa Cruz Las Columnas. Den Schulranzenkauf – für meinen Sohn diesmal – erledigte ich in weiser Voraussicht bereits einige Wochen vorher. Aus der Geschichte lernen, heißt das wohl. Fehler machen ist erlaubt, sie sehenden Auges wiederholen wäre fahrlässig. Nochmal fürs Protokoll: Vor der Bodega Santa Cruz Las Columnas! Herrgott. Wie großartig. Denn in meinem Kopf hat diesmal fast alles richtig gefunkt. Vier Jahre später. Darum geht es hier. Unter der Rubrik zu fassen: „Völlig richtige Entscheidungen als Vater“! Und da ist sie, die messerscharfe Flanke zum Neverending Vatertag. Wie Kostic auf Rafael Santos Borré in der 69. Minute.
Seit diesem Mittwoch sind einige Wochen vergangen. An jedem einzelnen Tag denke ich daran, dass ich dort war. Die tiefe Befriedigung, dieses Spiel real erlebt haben zu dürfen, wächst mit jedem Mal daran denken ein wenig mehr. Befriedigung und Genugtuung. Es wird nie weniger. Nur tiefer, schöner und nachhaltiger. Tag für Tag. Woche für Woche. Mit Worten kaum zu beschreiben, diese innere Zufriedenheit. Ich könnte mich still den ganzen Tag reiben, kneifen oder die Nachbarin vor Freude auf den Mund küssen. Ohne Zunge. Auch deshalb schreibe ich es auf. Ich als Text. Weil ich gar nicht so laut und heftig explodieren kann vor Glück. Eine Explosion knallt einmal und ist dann vorbei. Bei mir knallt es jeden Tag! Nur wenn ich dran denke. Jetzt wieder. Puff, Peng, Knall!
Ich habe mein Leben lang auf dieses Erlebnis gewartet. Und seit 2018 noch viel mehr. Mich genau nach diesem Augenblick absoluten Fußballfan-Glücks gesehnt. Es war in diesem Fall kein persönlicher Rocky-Balboa-Moment, den ich leichtfertig habe ziehen lassen. 42 Jahre. Kein internationaler Titel. Und mit Glasgow Rangers den schönsten Gegner, den sich ein Fan von Eintracht Frankfurt wünschen kann. Eben nicht RB Leipzig. Und diesmal auch nicht der FC Bayern. Nicht überheblich, großmäulig, ignorant und arrogant. Nicht übermächtig. Im Gegenteil. Ein cooler Verein. Mit Geschichte und guter Haltung. Fast ein bisschen der alte Bro aus Schottland. Oder der andere lässige Typ in der Bar. Der am Ende vielleicht die Frau abschleppt, mit der Du eigentlich abdampfen wolltest. Was dann zwar kacke wäre. Aber wenn schon einer, dann bitte dieser Kamerad. Denn er hat die gleichen coolen Platten im Schrank, hat Style, sieht verwegen aus und macht gute Witze. Das war Glasgow. Wenn also verlieren, dann gegen die Rangers. Aber wir haben nicht verloren. Und ich war dabei.
Die Mannschaft war 2022 keine wilde Bahnhofsviertel-Gang. Und trotzdem zu allem fähig. Wie wir! Mit leichtem Gepäck und voller Liebe und Wille! Es war eine längere Anreise. Über Faro, Portugal, in der Früh einen Cafe Con Leche, dann mit dem Mietauto an der Südküste nach Sevilla gebrettert. A little bit of a Road-Movie. Alles lief nach Plan. Wie gesagt: Um 13 Uhr standen wir mit kaltem Bier in der Hand und sangen uns ein. Europas beste Mannschaft. Eintracht Frankfurt International. Es war, als hätten Salma Hayek samt Cameron Diaz an meine Tür geklopft und beide hätten mich in ein Luxusressort auf der griechischen Insel Santorin eingeladen. Nur wir drei, das Appartement und ein Infinity-Pool. Blödsinn. Dieser Vergleich hinkt völlig. Es war viel schöner.
In meinem Leben als Vater habe ich etliche, gefühlt richtige Entscheidungen getroffen. Auf einiges verzichtet, dass mir im Nachgang keinen feuchten Flunsch gefehlt hat. Ich verbringe treu und still gerne Zeit mit meinen Kindern. Sehr gerne sogar. Und muss nicht mehr jeden Bock durch den Garten jagen. Das meine ich so. Ganz ehrlich und aufrichtig. Keine Finger hinterm Rücken über Kreuz. Aber diese Entscheidung war komplett richtig. In der Liga der komplett richtigen Entscheidungen liegt sie in den TOP 5. Ich traf sie aus der völligen Überzeugung heraus, dabei sein zu müssen. Meine Frau sagte auch diesmal nicht „Ralph, fahr! Bring den Pokal mit.“ Natürlich sagte sie das nicht. Das wusste ich vorher. Denn meine Frau sagt so gut wie nie „Fahr! Bring den Pokal mit“. Sie sagt auch nach meinem tiefen Schmerz von 2018 weiterhin „Bleib doch da. Was willst Du denn in Sevilla? Schau es doch hier zusammen mit uns. Mit den Kindern.“ Meine Tochter sagte nur „Mama! Natürlich fliegt Papa dahin. Es ist das Finale!“
Mit dieser Rückendeckung ignorierte ich meine Frau konsequent. Ohne schlechtes Gewissen und hörte zur Abwechslung auch noch auf meinen Vater, was ich – zugegeben – in den letzten Jahren immer seltener tat. „Ralph, das musst Du machen. So habe ich es früher auch durchgezogen.“ Sprach es und überwies mir noch als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk einen ordentlichen Betrag auf mein Konto, damit es auch ja kein Zurück mehr gab und ich die Reise in vollen Zügen genießen sollte. So sind manchmal Väter. Egal wie alt die Kinder sind. Bruno, mein Sohn, auf mich kannst Du später auch zählen. Und zählen konnte ich auf meine Freunde. Der unbeugsame Rene buchte den Flug und der famose Markus sorgte wie so oft für die Tickets. „Manchmal isst Du den Bären. Manchmal isst der Bär Dich.“ Sagt im „Big Lebowski“ Sam Elliott als einsamer Cowboy. Diesmal haben wir den Bären gefressen. Astrein. Komplett.
Dann stand ich gegen 16 Uhr auf dem Fanfest in Sevilla, knietief in einem künstlichen Teich und schickte meinen Kindern eine Videonachricht. Ich hatte wieder ein Bier in der Hand, nur diesmal nicht mit der Gewissheit, dass etwas Großes passiert. Aber ich wusste, ich bin am richtigen Ort. Selten war ich mir so sicher. Dann wurde es Zeit und wir marschierten zum Stadion. Zu Europas bester Mannschaft! Und wenn jetzt irgendeine Mutter, Vater oder sonst jemand meint, ich habe alles richtig gemacht und will mich dafür loben, dem oder der sage ich: Thank you. Ich nehme Lob und Preis sehr gerne an.
Als Borré den Ausgleich machte – ein Tor, das aus Sicht von Glasgow niemals fallen darf, weil drei Abwehrspieler eigentlich als Absicherung in dieser Spielsituation ausreichen – nahm mich mein Hintermann Max in den Arm. „Genau für diesen Moment sind wir hier heute hier!“. Ein schlauer Mann. Auch ein Vater. Und als wieder dieser Teufelskerl Borré den entscheidenden Elfmeter in den Winkel bretterte, weinte mein Freund Markus und ich küsste einen Mann, den ich bislang nicht kannte. Ich bin ehrlich. Ich hätte in diesem Augenblick auch gerne meinen Sohn oder meine Tochter geküsst. Aber sie waren eben nicht vor Ort und von daher waren sie in diesem Augenblick nur meine beste zweite Wahl der Welt. Ich war bei der Geburt meiner beiden Kinder im Kreißsaal. Und beim entscheidenden Elfmeter von Rafael Santos Borré. Neben den beiden Geburten ist dieser Augenblick der drittschönste in meinem Leben. Ziemlich sicher. Und das muss ich jetzt nicht weiter ausführen. Wer das nicht begreift, soll einfach den Beitrag „Stadt der Träumer“ von Stephan Reich googeln. Dann ist vielleicht diese tiefe Liebe und Sehnsucht zu verstehen.
Ich habe aus 2018 gelernt. Ich habe die Eintracht 2019 durch alle Heimspiele und bis nach Rom begleitet, ich schrie aus Leibeskräften Benfica Lissabon und drei Jahre später Barcelona und West Ham nieder. Mein Ritt war lang. Und er führte mich ans Ziel. Es ist mein größter Sieg als Fußball-Fan. Es ist wie ein einziges großes Nachhause-Kommen. Am Tag danach ging meine Tochter ohne mich zum Autokorso der Eintracht und wartete wieder fast drei Stunden auf die Mannschaft. Ich saß noch im Flugzeug, sie gab derweil Peter Fischer „Hohe Fünf“ und war überglücklich. Bruno spielt seit dem Finalsieg nahezu täglich die größten Szenen des Endspiels nach und hört sich meine Geschichten aus dem fernen Spanien an. Am Ende sind wir alle glücklich. Vielleicht auch meine Frau ein bisschen. Sie zeigt es nur anders.
Bruno und ich hören: War on Women „Capture the Flag“ (Bridge Nine Records)