Manchmal geht sie auf, die Saat. Die Keime und Sprossen, die ich mühevoll in jungen Jahren gesät und gesetzt habe. Voller Hingabe. Gegen alle Widerstände inner- und außerhalb der Familie. Olympische Spiele 2022 und eine Leidenschaft ist geboren. Hier in Praunheim. Im Frankfurter Nordwesten. Bruno Meidhof, fünf Jahre alt. Experte für Bobfahren, Liebhaber von Langlauf, großer Anhänger von Karl Geiger und Eric Frenzel. Unfassbarer Fan von Team Deutschland. Er kennt sie alle. Irgendwie. Wie sagte einst mein alter Schulfreund Thorsten Hock zu Abitur-Zeiten: „Ich bin kein Patriot, nur Sportpatriot“. Mein Sohn ist Sportpatriot. Aber sowas von. Bevor ich als Vater da vollends die Fassung verliere, rudere ich noch einmal ganz weit zurück in dieser Reihe, genau wie Howard Carpendale es sang, nämlich „dort wo alles begann“. Dazu einmal laut „Hello again“. Es ist nämlich ein ganz großes „Hello again“!
Wo ging es los? Stimmt ja. Bevor ich inmitten aller Hits und hr4 Überblick und Contenance verliere. Zurückrudern war das Auftakt-Motto. Erinnert sich hier jemand? Sonst zitiere ich mich einfach selbst, machen ja sonst nur Wissenschaftler, die penetrant die Bedeutung der eigenen Forschungsleistung betonen wollen. Oder die Frankfurter Rundschau, wenn sie über Eintracht Frankfurt berichtet. Also nehme ich mir das jetzt raus. Als Beleg, warum sich alles lohnt. Ich begann früh, da war Bruno noch nicht mal ein Jahr alt, ich schrieb „Es gilt nämlich, die Kinder früh genug an das Aktivsein heranzuführen. Bruno lernt Skiabfahrt, Tennis und Fußball früh kennen und kann sich so schon in ganz jungen Monaten gute Tricks und Kniffe von den Profis abschauen. Hier überlasse ich nichts dem Zufall.“ Mein Ansatz bezog sich damals bereits ausschließlich auf TV-Sport. Die Leidenschaft für den aktiven Sport entsteht aus intensivem und frühzeitigem Fernsehschauen möglichst aller Disziplinen. Das ist meine These. Die sich in diesem Olympia-Winter eindrucksvoll bestätigte. Bruno drehte im Wohnzimmer schönere Pirouetten als früher Norbert Schramm und schilderte mir en Detail das Tagesgeschehen, wenn ich am Abend vom Büro ins Haus einschrägte. Danke, Bruno!
Meine Mühen und dieser Ansatz wurden und werden nicht immer gutgeheißen. Im Gegenteil. Noch heute ruft meine Frau empört, wir sollen jetzt mal aufhören mit der Glotzerei, vier Stunden Sport am Stück seien jetzt aber mehr als genug. Nix da, entgegne ich. Vier Stunden Sport zu Olympia-Zeiten sind nichts. Wie ein Schluck Wasser nach einer durchzechten Nacht. Oder der berühmte Furz im Wind. Genau. Zisch, Peng, vorbei – ohne Wirkung. Sport im TV glotzen ist kein Fernsehschauen. Es ist etwas völlig anderes. Es ist eine Haltung, eine Einstellung und Philosophie. Eine Lerneinheit fürs lebenslange Wissen. Auch ich praktizierte sie als junger Bursche bereits. Arbeitete mich ein wie andere Jungs in Karate-Tricks. Aber deutlich später als mein Sohn. Sein Peking 2022 war mein Sarajevo 1984. Sein Frenzel war mein Peter Angerer. Damals gab es noch BRD und DDR und der Westen sammelte gerade mal vier Medaillen. Ich war elf Jahre alt. Er ist gerade mal fünf. Ein Rohdiamant in Sachen TV-Olympia. So jung und schon so dabei! Wie gesagt, ich glaube, ich habe in dieser Sache vieles, wenn nicht alles richtig gemacht. Darauf lass’ ich zur Feier des Tages einmal noch Vucko, den Wolf, heulen: Sarajevoooooooo!
Das einzige Problem ist allerdings, er neigt zur deutlichen Selbstüberschätzung. Sowohl was die eigene Leistungsfähigkeit, als auch den eigenen Wissenstand betrifft. Geprägt vom frühen Studieren der Ski-Alpin-Abfahrt und dem ersten Halbtags-Skikurs an einem Hang mit gefühlt einprozentigem Gefälle, geht mein Sohn davon aus, bereits mit mir die große Abfahrt bestreiten zu können. Und als selbst die Siegerehrung im Alpinen-Team über die Bühne ging und die Abschlussfeier der Olympischen Spiele nachweislich belegt, dass die Spiele jetzt vorbei sind, behauptete er immer noch steif und fest, das deutsche Team hätte gegen Österreich Gold gewonnen. Der Zeitmesser im TV sei schlichtweg falsch. Ich befürchte, das ist die Generation Fake News. Die erste Selbstüberschätzung konnte ich wenigstens mit einem realen Vorgang in die Schranken weisen, aber auch dafür brauchte ich mehrere Versuche. Erst stellte ich ihn in den Tellerlift, da flog er nach drei Metern raus. Das lag aus seiner Sicht allerdings am fehlerhaften Tellerlift, nicht an ihm. Dann nahm ich ihn zwischen die Beine, holte mir eine Zerrung im Oberarm und stieg auf halber Strecke mit ihm aus. Erst vier Stürze später und ein Abtransport mit Festhalten am Hintern machte ihm nachhaltig klar, dass noch zwei bis drei Trainingsrunden angesagt sein könnten. So ist er, mein Sohn, immer hart an der Kante.
Gerade schaut er nochmal in der Mediathek den vierten Lauf im Viererbob. Von vorne bis hinten. Mit allen Teams, völlig vertieft und beseelt. Leute, Bobfahren! Das musst du erst mal durchziehen in dieser Disziplin. Das habe selbst ich noch nicht gemacht. Bislang ging ich davon aus, dass in diesem Alter ausschließlich Kinder aus Oberhof oder vom Königsee in Deutschland hemmungslose Fans vom Zweier- oder Viererbob werden. Wahrscheinlich wünscht sich Bruno zum Geburtstag einen Einsteigerkurs im Skeleton! Ich glaube, ich buche jetzt schon mal eine Unterkunft in den Dolomiten für 2026 und lege langsam, aber sicher Geld zur Seite. Cortina und Mailand sind erreichbare Ziele. Nachhaltige Spiele in Europa, knapp siebeneinhalb Stunden Fahrzeit entfernt, wenn es gut läuft. Vater, Sohn, die Olympischen Spiele. Ein Traum könnte wahr werden. Ein Glück habe ich ihn früh an den Sport herangeführt!
Bruno und ich hören: Laura Jane Grace and the Devouring Mothers „Bought To Rot“ (Bloodshot Records)