Liest man Kafka, hämmern sich seine Texte auf eindrucksvolle Weise in das Hirn. Ihn jedoch verstehen zu wollen, den Meister aller sprachlichen Unverständlichkeit, gleicht einem Kampf, der nicht gewonnen werden kann. Im Jahr 1917 erreichte den Schriftsteller der Brief einer seiner zur damaligen Zeit nicht so zahlreichen Lesers: „Sehr geehrter Herr, Sie haben mich unglücklich gemacht. Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären. Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung […]. Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos. […] Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt.“ Und Kafka antwortet: „Ich kann Sie nicht verstehen lassen. Ich kann niemanden verstehen lassen, was in mir passiert. Ich kann es mir nicht einmal erklären.“
Noch heute, 100 Jahre nach seinem Tod, ist die anhaltende Wirkung auf die Literaturwelt präsent. Seine Werke sind Gegenstand intensiver Studien, Diskussionen und Analysen. „Als Germanist weiß ich, dass Kafka eigentlich das erste Mal ist, dass deutsche Literatur Weltliteratur ist. Vorher ist eigentlich nichts von uns weltweit gelesen worden. Mit Kafka beginnt das“, so Raoul Schrott. Hier würden die wenigsten literaturaffinen Leser wohl widersprechen, allerdings ergänzt er seine erste Aussage um folgendes Statement: „Kafka jetzt zu lesen war spannend, weil ich seit 30 Jahren kein Kafka mehr gelesen habe. […] Ich finde er ist alt geworden“. Autsch, dieses Statement trifft mitten ins (Tinten-)Herz. Kann man sich mit dieser Aussage Raoul Schrotts zufrieden geben? Ist Kafkas Literatur wirklich alt geworden? Und was lässt Klassiker eigentlich alt aussehen? Daher: raus mit dem (noch nicht) verstaubten Kafka-Band aus der Oberstufenzeit, blättern, einzelne Texte mehrfach lesen und gedanklich philosophieren.
Kafkas existenzielles Hungern: „Der Hungerkünstler“
Kafkas berühmter „Hungerkünstler“ ist eine leidvolle Erzählung über einen Artisten, an dessen Kunst kein Interesse mehr gefunden wird. Einst stolzer Bestandteil eines reisendes Varietés und Mittelpunkt der Jahrmarktaufführungen („Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teilnahme“), ist die Kunst des Hungerns vollends aus der Mode geraten („Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich“). Kafkas verständnisloser Künstler hungert in einer Welt voller Mahlzeiten, an dessen Büffet er sich nicht bedienen kann. Er leidet alleine, obgleich die Menschen außerhalb seines Käfigs – diese Schaulustigen, die ihn bei seinem universellen Hungern beobachten – den eigentlichen Grund seiner Existenz ausmachen und ihn in seiner Nahrungsverweigerung wenigstens die Bestätigung in Form kurzer Aufmerksamkeit geben. So berichtet dieser Künstler mit schwächlicher Stimme, nachdem er fast vollständig ausgehungert ist, dass er „nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle“. Der Käfig, in den man als Leser hineinschauen kann, eröffnet den Blick auf die existenzielle Leiderfahrung eines Künstlers, der an der eigenen Suche nach Sinn und Gemeinschaft am selbsterzwungenen Hungern zugrunde geht. Während Kafkas Künstler also hungert, ist der Rest am fressen: Macht, Einfluss, Reichtum. Die endlose Gier nach Nahrung, die der Hungerkünstler ablehnt, befriedigt nicht und macht keineswegs satt. Die erhabenen Blicke auf den Hungerkünstler sind umkehrbar: Ist es nicht die Menschheit, die in der Triebgesteuertheit und Fressgier nicht viel bemitleidenswerter ist, als es Kafkas Hungerkünstler jemals sein könnte? Berthold Brecht hatte Recht: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. Auf die Moral wird noch gewartet, denn das menschliche Fressen ist noch lange nicht beendet.
Kafka & beyond
Genug gelesen? Man kann Kafka im Jubiläumsjahr 2024 natürlich nicht nur zwischen den Zeilen, sondern auch auf der Mattscheibe (wieder-)entdecken. Die Mini-Serie „Kafka“ durchleuchtet Leben und Werk. Die sechs Folgen schaffen es auf groteske Weise, das ungewöhnliche Leben und Verhalten Kafkas sowie seine Texte miteinander zu verweben und zu vernetzen. Im Kinofilm „Die Herrlichkeit des Lebens“ wird die Liebesbeziehung Kafkas mit Dora Diamant kurz vor seinem Tod behandelt. Mit „Kafkas der Bau“ steht ein weiterer Fernsehfilm der ÖRR in den Startlöchern. Das Goethe Institut Tschechien veröffentlichte vor kurzem das Videospiel „Playing Kafka“, in dem man in die literarische Welt des Romans „Der Prozess“ eintaucht und die Hauptfigur Joseph K. steuert. Vor sieben Jahren erschien bereits ein ähnliches Videospiel, dass die Spieler in eine immersive Literaturwelt entführte. Ist Kafka also alt geworden? Nein! Das Gesamtwerk Kafkas ist gegenwartsästhetisch, wird in anderen Medienformen und Disziplinen aufgegriffen. Franz Kafka spricht Bände und braucht keine literarische Verjüngungskur. Versucht man die Texte Kafkas unter der Lesart prophetischer Zukunftsbeschreibungen zu verstehen, so landet man zwangsläufig in einer Sackgasse. Es war nicht Kafkas Anliegen, ein literarischer Seismograph zu sein, sondern lediglich das zu formulieren, was er in seiner kläglichen Existenz unmittelbar erlebt hat: Heimatlosigkeit, Unverständnis, Liebesentzug und Selbstzweifel. Das ist Kafka und das ist es, was ihn aktuell und nahbar macht: Seine Welt ist ein kafkaeskes (Spiegel-)Kabinett unserer Zeit, ob in Textform oder als Serienadaption. Und so manch anderer Leser wird sich in seinem eigenen Alltag vielleicht auf ähnlicher Weise als verzerrtes Spiegelbild Kafkas in dessen Texten wiederfinden.
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