Das zweite Mal sah ich den Mann dann bei meiner Joggingrunde durch die Fasanerie. Wie immer montags und donnerstags stellte ich meinen Wagen auf dem Parkplatz des Kronberg-Gymnasiums ab und startete das, was ich meine große Runde nannte.
Erst eher am rechten Rand der „Fasa“, stetig leicht bergauf, dann die Kreuzung der Straße, die von der Berliner Straße zum großen Parkplatz vor dem Restaurant und dem Biergarten führte. Danach weiter geradeaus mit Blick auf die große Wiese mit den Spielgeräten linkerhand und immer baumbeschützt, bis einen der Wald dann wieder ausspuckt. Ganz am Ende des Parks geht es links bergab und über das Andriansplätzchen, rechts am Fasaneriesee vorbei, zum Biergartenparkplatz und gerade zurück zum Gymnasium. Auf meiner zweiten Runde sah ich den Mann dann zwischen Andriansplätzchen und See. Er saß auf der langen Bank bei der Kneippanlage und war wieder völlig regungslos. Die Sonne schien ihm auf das Gesicht. Er ließ sich bescheinen, das rechte Bein ausgestreckt, das linke angewinkelt und blickte stur auf die weite Wiese, die sich nach Süden hin erstreckte. Hier und da hüpften bräunliche Felltupfer aus dem Grün. Schrilles Hundepfeifen durchstach die Luft. Herrchen machten sich mit zutraulichem Gesäusel lächerlich. Von Norden her störten Verkehrslärm und ratternde Züge die Pseudo-Idylle der flüsternden Bäume. Über dem Mann wiegten sich Jahrhundert-Buchen. Vor ihm ein dicker Ahornstumpf mit kleinen grün leuchtenden Ablegern. Wie zum Trost aller Lebenden, zum Beweis für die Reinkarnation. Auch wenn ich nicht sagen konnte, wieso, so war ich mir sicher, dass es sich um den gleichen Schattenmann handelte, der bei den Proben zum Duell dabei gewesen war.
Ich war neugierig. Irgendetwas machte diesen Mann interessant. Ich will nicht sagen, er wirkte bedrohlich, noch nicht, aber er kam augenscheinlich nicht aus der Stadt, vermutlich nicht einmal von diesem Kontinent. Er wirkte – wieder einmal – fehl am Platze. Und das soll jetzt nicht irgendwie fremdenfeindlich klingen. Gott bewahre. Auch andere hätten so wirken können, aber dieser Mann war eben fremd, in seinem Wesen, in seinem Verhalten und – ja – auch in seinem Aussehen.
Er mochte Mitte 40 gewesen sein – auch wenn die Furchen tiefer waren und von Leid oder von Erschöpfung oder großer Anstrengung erzählten. Der Bart war voll, akkurat, zeigte ganz vereinzelte weiße Strähnen und war lang, bis über den Kehlkopf hinaus. Solch ein Bart machte natürlich verdächtig. Sofort poppten in mir Bilder von islamischen Fanatikern auf, die ja in aller Regel genau solche Bärte trugen. Natürlich meldete sich sofort mein aufgeklärter Geist mit dem erhobenen Zeigefinger und dem berechtigten Hinweis, dass nicht jeder Mann mit solch einem Bart gleich ein Moslem gleich Fanatiker gleich Islamist gleich Gewalttäter gleich Selbstmordattentäter gleich Massenmörder sein musste. (Dass diese auch ganz anders aussehen konnten, hatte man ja vor einigen Jahren bei dem Beinahe-Attentat auf das Schloss sehen können. Jener Ali war wohl der am besten integrierte und „deutscheste“ Islamist, den es je gegeben hat. Ein fast perfekter Schläfer – nur den Abschluss, den hat er versemmelt …).
Die Augen waren starr, tiefbraun, aber nicht warm. Sie waren klar und kalt, als hätte man über seine ursprünglich blauen Augen einen Farbfilter gelegt. Sie waren skandinavisch, aber braun. Auf dem Kopf trug er eine Art Hut, eher ein starres Filzkäppchen in dunklem grau, das entfernt an die Hüte der Derwische erinnerte.
Die Neugier war zu stark. Ich hielt genau an der Bank, auf der er saß und täuschte eine Joggingpause vor, tippte wissend ein paar virtuelle Knöpfe auf meiner Smart-Watch und fing dann an, mich schwer atmend zu dehnen. Ich nickte dem Mann unmerklich zu und sah ihm dabei kurz in seine dunklen nordischen Augen, in denen die Sonne aufblitze. Ich konnte nicht erkennen, ob er zurücknickte oder ob nur ein Windstoß seinen Körper leicht zum Schwanken gebracht hatte. Ich tänzelte noch ein wenig herum, machte völlig unsinnige Verrenkungen und versuchte, mehr über den Fremden in Erfahrung zu bringen. Er trug schwarze Stoffhosen, etwas ausgeleierte Halbschuhe, ein beiges Hemd und ein braunes, noch ausgeleierteres Jackett mit Ellenbogenschonern. Nichts an ihm war verdächtig. Aber machte ihn das nicht gerade deshalb so verdächtig? Wieso tauchte dieser Mann innerhalb weniger Tage plötzlich zwei Mal hier auf. Dieser Mann, der mit Sicherheit nie zuvor hier gewesen war.
Da konnte ich mir wirklich sicher sein. Kaum ein Ascheberger ist so oft in der Fasa unterwegs wie ich: Kein Pfad und kein Weg, den ich nicht mit meinen Laufschuhen hundertfach beackert hätte, kein Baum, den ich nicht über viele Jahre beim Sterben, Entlauben und beim Wiedergeborenwerden begleitet hätte. Ich kannte jede einzelne Bank in diesem Park. Nicht nur auf einer hatte ich meine ersten erotischen Erlebnisse mit Karin aus der 9c oder Nicole aus der 10b oder Annegret aus der 11a … Hier, in diesem Park hatte ich meine ersten Partys gefeiert, zum ersten Mal das herb-faulige Aroma eines morgendlichen Schlappeseppel gekostet und hier war ich in der Pause zwischen Englisch und Mathe in der Elften maßlos enttäuscht gewesen über die ausbleibende Wirkung meines ersten Joints (was aber später besser wurde – viel besser …). Ich erlebte den Bau des Stadt-Rings und der Grünbrücke über den Ring vor einigen Jahren mit, so dass die Fasa nun direkt mit der Großmutterwiese verbunden war. Auf dem See war ich schon verbotenerweise als Kind Schlittschuh laufen und auch die Insel war mir nicht unbekannt. Ganz zu schweigen von dem Biergarten – wie viele Stunden … wie viele Maß … wie viele unsinnige Diskussionen …? Und doch lernte ich hier meine Frau kennen. Und kaum ein Sommertag vergeht, an dem ich nicht im Fasa-Biergarten mit Kollegen, Parteifreunden, Ex-Kollegen, Ex-Klassenkameraden, Elternbeiratsmiteltern, Sportsfreunden oder Ex-Kommilitonen oder manchmal auch (und nicht immer offiziell) auch mit Ex-Freundinnen hier das eine oder andere Glas leere. Und natürlich sind jetzt auch oft meine eigenen Kinder mit dabei, freuen sich auf ihre Apfelsaftschorle und die Pommes im Biergarten, füttern mit Begeisterung die Enten von dem kleinen hölzernen Brückchen mit Geländer an der Nordseite des Sees, suchen die Wasseroberfläche nach Schildkröten ab und toben sich auf der Rutsche oder dem riesigen Klettergerüst aus. Ich wohnte seit meiner Kindheit keine zehn Gehminuten entfernt von der Fasanerie. Ich kannte diesen Park. Das war mein Revier. Dieser Mann war noch nie hier gewesen.