Große Vorfreude in Aschaffenburg. Der Ministerpräsident hat sich zum Frühschoppen im Fasanerie-Biergarten angesagt. Doch bei den Vorbereitungen zum großen Festtag taucht im Aschaffenburger Park immer wieder ein mysteriöser Fremder auf, der ein seltsames Verhalten an den Tag legt.
Ihm gegenüber nahm nun ein fast ebenso junger Mann in studentischer Verbindungs-Tracht seinen Säbel in Empfang. Fast lässig, überheblich griff er danach. Die grünen Augen starrten den Forstmann Andrian an und spotteten. Er war sich des Sieges sicher.
Der Meister hob die Hand, die Sekundanten entfernten sich. Die Bäume raunten. Die Säbel blitzten in der wipfelgefächerten Sonne, die für einen kurzen Moment die Szenerie erhellte, als wollte sie den Scheinwerfer auf die Tragödie richten, die sich nun gleich abspielen würde. Dann sank die Hand des Zylindermannes langsam und der Kampf begann.
Metall klirrte auf Metall. Die beiden jungen Männer verausgabten sich. Hefige Atemstöße, Prusten, Stöhnen. Mal fiel der eine und rollte sich gekonnt ab, mal der andere. Irgendwann dann – war es die Müdigkeit, die Angst oder einfach nur eine zufällige Unachtsamkeit – wurde Ferdinand Freiherr von Andrian getroffen und sank leblos zu Boden. Für einen kurzen Augenblick schielte ich zu dem Schattenmann auf der Wiese hinüber – der stand immer noch da. Still und starr. Wie ein Mahnmal.
„Wunderbar Leute! Hervorragend. So machen wir das. Noch zwei, drei Hiebe mehr, Finn ja – bevor du fällst. Und Leo – ein kleines bisschen mehr Bewegung. Und Stöhnen könnt ihr auch noch lauter. Denkt immer daran: Theater soll und will nicht die Wahrheit zeigen, sondern sie übertreiben, damit wir die Wahrheit verstehen! Aber sonst – Spitze, Jungs!“
Ich hatte Jürgen erst gar nicht wahrgenommen. Der kleine, knochige Ex-Studiendirektor mit dem Spitzbart und der Baskenmütze kauerte auf einer der Holzbänke und strahlte. Gleichzeitig umgab er seine Gesichtszüge mit den spöttischen Winkeln des Niezufriedenseins, des Perfektionisten. Desjenigen, dem das hier alles zu unprofessionell war. Aber das würde er natürlich nie sagen. Vielleicht machte er das Ganze auch nur deshalb, weil er auf einen besseren Posten im Ortsverband hoffte – als Beisitzer hatte er es ja noch nicht so weit gebracht. Auch wenn er innerlich herabblickte, er würde das nie sagen und hatte es zu seiner persönlichen Mission gemacht, das Beste aus seinen Parteifreunden herauszuholen.
„Wirklich Spitze! Der Ministerpräsident kann kommen. Allerdings, wie machen wir das mit Blut? Wäre Blut nicht auch noch eine gute Idee? Das macht das Ganze noch plastischer. Hhm. Wie kriegen wir das hin. Blut ist eigentlich immer gut. Lasst mich noch mal nachdenken. Ach ja – Peter und Leo: Nicht vergessen: es wirkt einfach viel schöner, wenn ihr genau im Gleichschritt lauft. Denkt daran – das ist ein zeremonielles Ritual nach ganz strikten Regeln, ja? Und Wendelin. Ruhig noch etwas langsamer und feierlicher, aber auch ein bisschen geheimnisvoller sprechen, ja?“
Der Tote war mittlerweile auferstanden und hatte sich eine Zigarette angesteckt. Der Mörder suchte in seinem Rucksack nach seinem Handy und hörte dem Regisseur Jürgen nur halbherzig zu. Die anderen Älteren waren aufmerksamer. Alle standen nun im Kreis um Jürgen herum und dieser gab ausführliche Anweisungen für jeden einzelnen Darsteller.
Ich gab meine beobachtende Position auf, ging in den Kreis und klatschte begleitet von ein paar Bravos. „Das wird dem Ministerpräsidenten sicher gefallen“, sagte ich.
„Ja – sicher, aber wir müssen noch daran feilen – noch sind wir nicht soweit“, flötete Jürgen.
„Klar“, gab ich zurück, „aber wir haben ja auch noch einige Wochen Zeit. Das kriegt ihr hin – das wird einer der Höhepunkte des Besuchs!“
Der Kreis löste sich langsam auf. Der Tote musste zum Basketball, der Mörder für die Latein-Schulaufgabe lernen. Die Sekundanten eilten zu ihren Ehefrauen und meinten die Eile ehrlich. Der schon etwas ältere Zeremonienmeister ging auch nach Hause, aber da war keine Vorfreude mehr. Die Statisten – allesamt Rentner – hatten zwar noch Frauen, waren aber ehrlich genug, zum Biergarten aufzubrechen, was für alle besser war. Für sie selbst, für die Frauen und den Haussegen im Allgemeinen. Nur Jürgen blieb zurück auf der Platzanlage, die zu Ehren des Toten Andriansplätzchen genannt wurde.
Drei Bänke standen auf diesem kreisförmigen Plätzchen. Zwei mit Lehne, eine ohne. Nur eine davon war mit grünen großen Buchstaben als Forstamt deklariert worden. Jürgen stand auf und ging langsam auf die stumpfe bundsandsteinerne mannshohe Säule zu, die nicht ganz in Mitte des rund anmutenden Platzes auf einem Quaderpodest stand und betrachtete die Inschrift, als sei sie ein Psalm. Über und unter zwei sich kreuzenden Säbeln stand dort: Zur Erinnerung an den hier 1824 gefallenen Forstcand. v. Andrian.
Das kleine Denkmal hatte etwas von einer geköpften Tempelsäule, über deren Hals man ein Tuch gehängt hatte, damit man die Wunde nicht sah, oder als ob jemand seinen Umhang darüber geworfen und ihn dann vergessen hatte.
„Was meinst du, Paul? Was soll dieses angedeutete Tuch über der Säule? Ich sehe darin den Haarschopf des Toten. Vielleicht soll der kalte Stein damit zum Gesicht eines Menschen werden. Desjenigen, der hier grausam verblutet ist“
Ich saß noch auf der Forstamt-Bank ließ den Blick schweifen. Von der „Regiebank“ ausgesehen stand die Säule zwischen zwei hohen Bäumen. Links von ihr ein etwas schmächtiger Ahorn, rechts etwas weiter entfernt eine kräftige, dominante Eiche. Dahinter ein Halbkreis aus großen, grauen Steinen, die die Begrenzung das Platzes darstellten. Darunter war ein kleiner Abgrund. Das Ganze hatte etwas von einer Terrasse hinunter zu der großen Wiese, auf der der Schattenmann gestanden hatte. Er war weg.