Sind wir doch mal ehrlich: Bei der gemütlichen Schlenderrunde durch unsere überschaubare, kleine Stadt, beim Bummel durch Herschelgass’, Sandgasse und Roßmarkt oder dem kleinen Spaziergang durch Schönbusch wie auch Fasanerie denkt man an vieles, aber wahrscheinlich nicht daran, dass es in Aschaffenburg Bedarf an Streetworking gibt. Sowas ist in den naiven Köpfen der Allermeisten von uns schon eher ein Thema für Großstädte, Metropolen und soziale Brennpunkte.
Und genau das ist nicht richtig. Denn selbstverständlich gibt es auch bei uns Menschen aller Altersklassen, die sich aus unterschiedlichen Gründen vom Rest der sozialen Gesellschaft entkoppelt haben oder entkoppelt wurden. Unfreiwillige Notlagen gibt es eben überall, auch bei uns, und die betroffenen Personen benötigen dringend Unterstützung.
Modellprogramm für in Not geratene junge Menschen: JUST BEst
Und da gibt es seit einigen Monaten in Aschaffenburg etwas tolles Neues, speziell für jüngere Mitbürger zwischen 14 und 26 Jahren: Im vergangenen November fiel der Startschuss für JUST BEst, was übersetzt nichts anderes heißt als „Jugend stärken: Brücken in die Eigenständigkeit“. Das Amt für Kinder, Jugend und Familie der Stadt Aschaffenburg beteiligt sich an diesem Modellprogramm des Bundes, das zum Ziel hat, in A’burg bis 2027 ein flexibles Beratungsangebot für junge Menschen in Notlagen zu etablieren. Dabei arbeitet die örtliche Jugendhilfe als Koordinationsstelle mit freien Jugendhilfeträgern, Jobcentern, Arbeitsagenturen und weiteren Kooperationspartnern übergreifend zusammen, um gemeinsam zielgerichtete Unterstützungsangebote zu initiieren.
Von der Projektbeschreibung zur harten Realität
Zugegeben, das klingt alles zwar ganz schön, aber auch ein bisschen sperrig. Denn die Realität für diejenigen, die dieses Programm ansprechen soll, sieht oftmals kurz, bündig und knallhart aus: Keine Wohnung oder keinen Schlafplatz, nichts zu essen, vielleicht auch Ärger mit Behörden oder Polizei und an einen festen Job ist in der Regel nicht zu denken. Eine weitere Zielgruppe, die von JUST BEst profitieren kann, sind die sogenannten Careleaver, also junge Menschen, für die die Jugendhilfe mit Erreichen der Volljährigkeit endet und die ab diesem Zeitpunkt ohne Unterstützung dastehen.
Der Streetworker
Sie alle haben nun mit dem Streetworker Sebastian Wisgickl-Jagusch einen Ansprechpartner, der ohne jede Hürden Hilfe anbietet, zuhört, berät, unterstützt und seine Klienten zu Behörden und Gerichten begleitet. Sprich, er vertritt die Interessen seiner Schützlinge gegenüber Dritten. Für Careleaver gewährleistet er die sozialpädagogische Nachsorge und bereitet so den Boden für ein erfolgreiches Übergangsmanagement.
Über das, was seinen Job ausmacht, wo die Herausforderungen liegen, was echte Erfolgserlebnisse sind und noch mehr konnte FRIZZ mit Sebastian direkt sprechen.
FRIZZ Das Magazin: Konntest du schon vor dem Projektstart abschätzen, wie groß der tatsächliche Bedarf in unserer Stadt ist? Wie hat sich dieser entwickelt?
Sebastian Wisgickl-Jagusch: Statistisch lässt sich der Bedarf auf Aschaffenburg umrechnen. Zum Projektstart im Februar 2023 hat die Projektkoordination im Amt für Kinder, Jugend und Familie in der Stadt Aschaffenburg zusammen mit der Jugendhilfeplanung der Stadt zusätzlich eine Abfrage bei den Kooperations- und Netzwerkpartnern gestellt, welche Bedarfe junge Menschen in Aschaffenburg haben. Dort wurden neben der aufsuchenden Arbeit vor allem betreuter Wohnraum oder eine Notschlafstelle, ein gutes Übergangsmanagement für Careleaver, aber auch ein niedrigschwelliges Hilfe- und Unterstützungssystem benannt.
Worin liegen deiner Meinung nach die Hauptgründe, dass junge Menschen – auch abseits der anonymen Großstädte – die Bindung an das soziale Netz verlieren können?
Bei den Careleavern handelt es sich um junge Menschen, die aus der Jugendhilfe herausfallen, weil sie entweder 21 Jahre alt sind oder sie die Jugendhilfe freiwillig oder unfreiwillig verlassen. Viele sind in unterschiedlichen Kinderheimen, Wohngruppen oder Pflegefamilien aufgewachsen. Die Herkunftsfamilie ist oft kein sicheres Netz oder fehlt ganz. Das Verlassen der Einrichtung geht oftmals auch mit Beziehungsabbrüchen zu den Menschen in den Einrichtungen einher.
Worin liegen die größten Herausforderungen in deinem beruflichen Alltag?
Eine große Herausforderung ist, die Menschen mit Unterstützungsbedarf zu finden und dann eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, ihnen zu zeigen, dass man nicht über sie bestimmt und dass man ihre Themen und ihren Fokus ernst nimmt. Jede Person ist Experte der eigenen Lebenswelt.
Wie trittst du mit den jungen, hilfsbedürftigen Menschen in Kontakt? Kommen sie auf dich zu oder wirst du selbst zum größten Teil aktiv?
Ein wichtiger Teil in der Streetwork ist die aufsuchende Arbeit. Dazu gehen wir regelmäßig und zu unterschiedlichen Zeiten gewisse Routen durch die Stadt und schauen, wer sich dort aufhält. Weckt eine Person oder eine Gruppe unsere Aufmerksamkeit, dann sprechen wir diese aktiv an und stellen uns und unser Angebot vor. Zudem kommt, dass wir gut mit den unterschiedlichsten sozialen Akteuren in Aschaffenburg vernetzt sind und diese ihre Klienten dann an uns verweisen. Als neues Projekt testen wir aber natürlich auch aus, welche Zugänge sonst noch funktionieren. Wir sind beispielsweise aktiv bei Instagram und versuchen darüber junge Menschen zu erreichen, die nicht mehr im öffentlichen Raum anzutreffen sind.
Ein Streetworker muss bestimmt zahlreiche verschiedene Schlüsselkompetenzen in sich vereinen, oder? Worauf kommt es bei seiner Arbeit am meisten an und wo siehst du persönlich deine größte Stärke?
In der Streetwork gibt es verschiedene Arbeitsprinzipen, die für mich handlungsleitend sind. Eins der für mich Wichtigsten ist Akzeptanz. Wir müssen die Person, aber auch die Ausgangssituation, erst einmal so hinnehmen wie sie gerade ist. Das geht von unzähligen Terminen, die ausgemacht und bei denen niemand erschienen ist, über die dritte Drogentherapie, die nach kürzester Zeit abgebrochen wurde, bis zu obdachlosen Personen, welche die Nacht lieber auf der Straße verbringen, als die Obdachlosenunterkunft zu nutzen. Das heißt nicht, dass ich das gut finden muss oder mit einer gewissen Beziehung nicht kritisieren darf. Aber ich muss es zuerst einmal akzeptieren.
Was macht dir an deinem Job am meisten Spaß und wie sieht für einen Streetworker ein echtes Erfolgserlebnis aus?
Am meisten Freude bereitet mir die Vielfalt meines Berufs. Ich weiß oft nicht, was mich am nächsten Arbeitstag erwartet, welche Menschen mir begegnen und welche Themen sie mitbringen. Das ist oft auch herausfordernd, aber ich habe das Gefühl, auch immer wieder etwas Neues für mich lernen und mitnehmen zu dürfen. Außerdem hat Aschaffenburg so viele schöne Ecken, die man immer mal wieder auf der Route durch die Stadt einbauen kann. In der Streetwork lernt man Erfolg im Kleinen zu bemessen. Ein erster kleiner Erfolg ist, dass nach dem Erstkontakt auf der Straße oder bei Kooperationspartnern die jungen Menschen zu uns ins Büro kommen und diese dann auch ihre Briefe und Unterlagen mitbringen. Ich freue mich aber auch immer, wenn der Bürgergeldantrag durch ist und somit die Existenz erstmal gesichert ist und sie wieder Geld zur Verfügung haben. Größere Erfolge sind dann schon die Vermittlung ins betreute Wohnen der Brücke e. V. oder InVia.
Danke fürs Gespräch!