Die neue Aschaffenburger Kunstausstellung im Schlosspark wird sabotiert. Eigentlich sollte die AB-ART-DOOR die Größen der internationalen Kunstszene versammeln. Kunstwerke von Weltruhm wie Sanchos „Illusorischer Indikativ“ oder die „Kopulierenden Diesel-Motor-Zwillinge“ von Hadebrand van Hinton sollten Aschaffenburg zum Nabel der innovativen Art-Welt werden lassen. Kurz vor der Eröffnung aber zerstört ein geheimnisvoller Unbekannter nach und nach die Kunstwerke zwischen Pompejanum und Schloss. Kommissar Sepp Ballschenk steht vor einem Rätsel.
Kein Künstler hätte es verkraftet, wenn während dieser leidensreichen Schaffensphase ständig irgendwelche dahergelaufenen Banausen-Aschaffenburger ihnen – wie man so schön sagt – über die Schulter schauten und womöglich auch in ihrer mitteilsamen Art nicht mit aufmunternden Kommentaren gespart hätten: „Was soll’n des soin, Häbät? N’ gabuttes Spazierstöggsche mit Zuggäguss?“ „Ach, Gisela, des is beschdimmt irschend en Schweinkram.“
„Äh, Herr Künstler, tschuldigung, abbä da unne liescht noch ein Teil von dere umgedrehde Kuggugsuäh, oder was des soin soll.“
„Des soll Kunst soi? Sou sieht’s äbbä ach in moiner Garasch aus, Gündä!“
„Guggemol. Do des Teil da vonne – kommt da noch der Sperrmüll? Das muss doch alles schö gemacht wern, wenn das hier losgeht“.
„Äh – Herr Sanscho? Isch glaab, da is ihne was runnergefalle vom ihäm – äh – Wäek. Isch hab’s grad emal uffgehobe. Bidde!“
Die Bürger gingen sogar auf die Straße. Es gab eine Demo mit Sprechchören und selbstgestalteten künstlerisch wie grammatikalisch unterirdischen Plakaten: „Ihr nehmt uns unsere Park’s weg!“ „Bürger vor Kunst!“ „Aschaffenburg den Aschaffenburgern“ „Freiheit VON Kunst“ „Freier Park für freie A’Burger!“ Leserbriefe überfluteten das Main-Echo und stellten die Bewegungsfreiheit über die gestalterische Freiheit. Sie ergossen sich in einer fundamentalen Kritik der vermeintlichen Abgehobenheit der Postmoderne in ihrer Arroganz gegenüber dem Betrachter in Zeiten des Paradigmenwechsels vor dem Hintergrund der geistigen Prostitution oder aber – sie fanden die Preise doof.
Aber schließlich war es gelungen. Kuratoren, Verwaltung und Stadtrat hatten sich auf ein Datum geeinigt und gleichzeitig eine geniale Idee umgesetzt: Die Künstler erhielten den alten Lokschuppen als Vorbereitungshalle für ihre Kunstwerke und am Tag der Schließung des Ausstellungsgeländes für die Öffentlichkeit bis zur Eröffnung gab es eine richtige „Überführungsparade“ kongenialer halbfertiger Ausstellungsstücke für die AB-ART-DOOR – so etwas hatte es weltweit noch nie gegeben! Wie ein Karnevalszug zuckelten die Lastwagen mit den Kunstteilen auf den Ladeflächen über die Elisenstraße bis zum Bahnhof und von dort aus entweder über die Kolpingstraße und die B26 zur Pompejanumstraße oder über die Frohsinn- und die Erthalstraße zum Schlosspark. Da kamen sie, die Bürger, und staunten nicht schlecht. Sie säumten die Straße, als führe der König höchstselbst durch das Bayerische Nizza, aber das kostete ja auch nichts. Was als Appetithappen und imagefördernde Maßnahme gedacht war, führte leider nicht zu entsprechenden Vorverkaufszahlen. Offensichtlich hatte der Umzug eher abschreckende Wirkung gehabt. Banausen.
Und die Künstler! Die Hälfte meiner Arbeitszeit in den letzten drei Wochen in der heißen Phase vor der Eröffnung hatte ich damit verbracht, meine ach so sensiblen Künstler zu besänftigen und ihre divenhaften Launen zu ertragen.
Sancho rief alle halbe Stunde an und beschwerte sich mit vor Hysterie sich überschlagender Stimme über die seiner Meinung nach künstlerunwürdigen Arbeitsbedingungen. Es war zu heiß, zu kalt, zu trocken, zu nass, zu windig, zu hell, zu dunkel – wie solle ein Mann wie er da etwas Großes schaffen?
Eddie hatte alle Nase lang Sonderwünsche und meldete sich zu jeder Tages- und Nachtzeit, weil irgendetwas seine Inspiration störte oder anregen sollte. Er trank nur dieses Quellwasser aus den slowenischen Alpen, verlangte ein Zertifikat, dass seine Lammkoteletts auch gestreichelt worden waren als sie noch Lämmer waren und konnte es kaum fassen, dass man in seinem Hotelzimmer nicht per Sprach-App den Wärmegrad des Lichts steuern konnte. Wie sollte er da weltbewegende Ideen entwickeln?
Ich versuchte, alles möglich zu machen, aber irgendwann war Schluss. Nein, Okawango bekam KEINE Sänfte mit vier Aschaffenburger Jungfrauen in Seidenkimonos, die ihn jeden Morgen vom Hotel im Landing zum Ausstellungsort tragen sollten. John James Tucker-Henselmann musste auf das persönliche Streichquartett am Ort des Schaffensprozesses ebenso verzichten, wie der vollbärtige Asgur Ausgrevindinson auf Pottwaltran zur Pflege seines widerspenstigen Bartes und seiner Intimzone.
Ich war Lakai, Seelenmülleimer, persönlicher Sekretär, Botenjunge, Manager und Fußabstreifer für die Künstler und lange hätte ich das auch nicht mehr ausgehalten. Aber die Zeit arbeitete für mich. Die Verkaufszahlen blieben unterirdisch, aber was sollte ich tun? Absagen war nun keine Option mehr und die Verträge mit den Künstlern, den Sicherheitsfirmen und den wenigen Sponsoren waren ja auch schon längst unter Dach und Fach. Es blieb mir nur, für die kommenden vier Wochen auf einen wundersamen Ansturm an der Tageskasse zu hoffen und auf eine möglichst bundes- oder europaweite Presseberichterstattung als zusätzlichen Impuls.
Dann kam der Mittwoch vor der feierlichen Eröffnung am Samstag und mit ihm die Katastrophe der ramponierten Hermine und das große Henne-Ei-Problem.
Eddie schluchzte immer noch in meinen Armen. Er hatte sich zunächst an die Statue im mittleren der drei Brunnen auf der St. Germain-Terrasse gekuschelt. Die nackte grau-grüne Frau mit den fast gesäßlangen Haaren, den kleinen Brüsten und der geriffelten steinernen Haut war laut Inschrift eine „Sinnende“. Auf mich wirkte sie mit ihrer leicht nach oben gezogenen Oberlippe eher etwas schnippisch, es war ein wissendes, ein überlegenes Lächeln. Sie schien die Lächerlichkeit von Eddies Habitus zu verachten.
Ich tätschelte Eddie gedankenabwesend seine Schulter und es gelang mir, ihn die sechs Stufen der Freitreppe, die zur oberen Ebene der Terrasse führte, zu einer der Parkbänke zu schleifen. Dort legte er sich in Embryonalhaltung hin, von heftigen Stoßseufzern und Heulkrämpfen durchschüttelt. Sein langes angegrautes Haar floss mit seinen Tränen auf den Boden. Die Situation selbst war ein Kunstwerk. Überall diese Eier, überall die von Katzen, Hunden und Vögeln verschleppten angefressenen Hähnchenschenkel, aufgeregtes Sicherheitspersonal, verunsicherte Künstler mittendrin, Eddies bebender Körper, dessen Kopf auf meinem Oberschenkel ruhte.
Ein Mann, der aussah, wie ein völlig überzeichneter klischeehafter Kommissar aus 70er- und 80er-Jahre-Krimis schlurfte auf mich zu. Bienzle-Hut, Derrick-Trenchcoat, Schimanski-Schnurrbart. Im Blick das Forschende auf der Suche nach der Wahrheit, aber auch das dumpfe Nicht-Findende. Ein Beamter, dem man ansah, dass sich dessen hochtrabende Ideale und Ambitionen mit den Jahren in einen lahmenden Paragraphenritt mit Aussicht auf Pension verwandelt hatten.
Das konnte eigentlich nur ein Künstler sein, die ja mit allem, was sie taten und schufen und dachten, etwas aussagen wollten. Egal, ob sie pupsten, rotzten, dir die Hand gaben oder zwei Mal blinzelten. Alles musste etwas bedeuten – alles wurde aufgeladen mit der Aura und dem Schöpfergenius des Künstlers. Der zeitgenössische Künstler konnte nie etwas einfach nur so tun, immer vermutete man ein Werk, eine Message, einen revolutionären, transzendenten, ästhetischen Ansatz – ob sie es wollten oder nicht. Die Art, wie sie redeten, die Art, wie sie dich anschauten, wie sie ihr Champagnerglas hielten oder das Shrimpsschwanzschaumsüppchen schlürften, war im Zweifel Kunst – und natürlich eben auch die Art, wie sie sich kleideten.
Aber ich hatte diesen Mann noch nie gesehen, und wenn er wirklich mit seiner schlurfenden Gang-Art und seinem knittrigen Schlabber-Outfit etwas ausdrücken wollte, dann war das irgendwo zwischen frisch geschieden, Bahnhofsmission und einsamer Wolf angesiedelt.