Die neue Aschaffenburger Kunstausstellung im Schlosspark wird sabotiert. Eigentlich sollte die AB-ART-DOOR die Größen der internationalen Kunstszene versammeln. Kunstwerke von Weltruhm wie Sanchos „Illusorischer Indikativ“ oder die „Kopulierenden Diesel-Motor-Zwillinge“ von Hadebrand van Hinton sollten Aschaffenburg zum Nabel der innovativen Art-Welt werden lassen. Kurz vor der Eröffnung aber zerstört ein geheimnisvoller Unbekannter nach und nach die Kunstwerke zwischen Pompejanum und Schloss. Kommissar Sepp Ballschenk steht vor einem Rätsel.
Guten Tag. Sind Sie Herr Mandrion?“ Ich bejahte etwas mürrisch, unterließ es umgehend, Eddies Haar zu streicheln, schob dessen immer noch schluchzenden Kopf von meinem Oberschenkel und stand auf. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Klischee-Kommissar über einen Kopf kleiner war als ich – der graubraune Hut hatte es aus der Ferne kompensiert. „Kommissar Sepp Ballschenk. Ich bin zuständig für die Ermittlungen in diesem Fall. Sie haben uns gerufen, ja?“ Ich konnte es nicht fassen. Der Mann war tatsächlich Polizist. Fehlte nur noch, dass er jetzt ein Notizbuch und einen angekauten Bleistift aus der Innentasche seines Mantels zog und irgendwann irgendein hündischer Stefan den Wagen holte. Ich nickte und sah mit dem Augenwinkel immer ein wenig nach Eddie, der sich zwar weitgehend beruhigt hatte, nun aber von der Bank gekrabbelt war und vor der nahen Skulptur kniete, als wollte er sie anbeten. Dargestellt war ein weißer Marmorwürfel, der an allen Seiten Federn oder Flügelteile zeigte und selbst auf einem großen rostroten Metallquader prangte. In den Boden waren in Ungarisch, Deutsch, Französisch und Englisch die Worte Toleranz, Freundschaft, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung vermerkt. Eddie senkte seine Stirn auf das ungarische „Nemzetköziseg“ und brummte dabei irgendein niederländisches Klagelied vor sich hin, das zwar melodisch entfernt an „Oh my Darling Clementine“ erinnerte, aber textlich in etwa besagte: „Klein konijntje, klein konijntje in het grote dannebos“.
Ich dachte kurz an Freddy Quinn und gleichzeitig an dieses faszinierende Organ namens Gehirn, dass sich solche absolut unwichtigen und höchst vergessenswürdigen Tatsachen wie jene, dass dieser Mann als Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl in Wien oder in Pula oder in Niederfladnitz geboren wurde, auf Jahre hinweg merken konnte, obwohl man das gar nicht wollte. Was trieb ein Gehirn dazu, diese völlig wertlose von mir, seinem Herrn und Meister, seinem Denker und Lenker, schon beim ersten Wahrnehmen mit Nachdruck in den Mülleimer des Vergessens beförderte Information, nicht nur nicht zu löschen, sondern in meinem Langzeitgedächtnis einzubrennen und bei jeder blödsinnigen Gelegenheit wieder hervorzukramen?
Ein Mann, Mitte zwanzig, schulterlanges offenes lockiges blondes Haar, mit Adidas-Turnschuhen, Jeans und Jeansjacke bekleidet, joggte auf den Kommissar zu und meldete kurz, dass er den Wagen geholt habe. Der Kommissar nuschelte etwas von „Ist gut, Stefan“, zog einen angekauten Bleistift und einen Notizblock aus der Innentasche seines Mantels und räusperte sich.
„Na dann – erzählnse mal!“ Ich zögerte kurz, ließ meinen Blick über die Henne-Ei-Katastrophe schweifen, verweilte kurz beim wimmernden Eddie, der gerade im Schneidersitz auf dem Boden saß und abwechselnd bunte Eier und Hähnchenschenkel streichelte und küsste, und bat den Kommissar dann um einen Spaziergang. Wir liefen in Richtung Schloss. Erst passierten wir das Pompejanum, das ehrwürdig strahlte, als sei es eben erst gebaut worden und nicht schon 150 Jahre alt. Die angefressene und zerquetsche Hermine ignorierten wir, wie auch ein paar Schritte später den in einer Kieferkrone baumelnden „Sockendunst im Nebel“ und genossen den Blick auf das Schloss Johannisburg.
Ballschenk sagte kein Wort, er schien auf mich zu warten und ließ mir Zeit, meine Worte mit Bedacht zu wählen. Wir erreichten die schmale Brücke mit den Holzbohlen und dem Metallgeländer, die über den unteren Teil des Schlossparks führte und uns einige Blicke auf den Main erlaubte. Die beiden Alexas nahm er gar nicht war. Mitten auf der Brücke drehte sich Ballschenk plötzlich um, Blitze schienen aus seinen Augen zu speien, aber er sagte in ruhigem Ton: „Nun? Herr – äh, Mandrion?“
Ich erzählte ihm alles. Fast alles. Aber ich konnte ein Teil meines Herzens ausschütten und es tat gut, einmal nicht der Empfänger, der Tröster, der Problemlöser zu sein, sondern der Sender, der Loswerder und Herzausschütter. Ich berichtete von den Absperrungsproblemen, von der sturen Verwaltung, den rebellierenden Bürgern und den zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen Hysterie und Depression auf zarten Seelenfädchen balancierenden Künstlern mit den abstrusesten Angewohnheiten und Macken.
Wir schlenderten an dem klassizistischen in weiß gehaltenem Frühstückstempel und John James Tucker-Henselmanns Apokalypse der Zahnhygiene vorbei, gelangten über den von Weinranken bedachten Mauergang zur Schlossterrasse und genossen kurz, die Hände auf das buntsandsteinerne Geländer gestützt, den Ausblick auf die andere Mainseite, wo sich die Sonne auf ein Stelldichein mit Leider, Stockstadt und Babenhausen vorbereitete und den trägen Main zum Funkeln brachte.
Das Schloss wirkte wuchtig, unfreundlich und mächtig. Wie ein despotischer Herrscher, der glaubte, besser als sein Volk zu wissen, was gut für es war. Der Ostturm wachte über uns und über den Fluss und schenkte uns kein Mitleid. Wir nahmen die Treppen durch das spitzbehelmte rote freistehende Steintor, dass aussah, als sei den Bauherren das Geld ausgegangen, hinauf zum Schloßplatz.
Ein dunkler BMW fuhr quietschend vor, bremste drei Meter vor uns, Stefan stieg aus und öffnete seinem Chef die Beifahrertür. Ballschenk verabschiedete sich und dann, ja dann tat er das, worauf ich schon die ganze Zeit gehofft hatte, weil es einfach in JEDEM, wirklich in jeden Fernsehkrimi vorgekommen war, den ich in meinem Leben gesehen hatte. Ballschenk nestelte in seiner Innentasche herum, zog eine Visitenkarte hervor, reichte sie mir und nuschelte: „Falls Ihnen noch was einfällt …“
Am nächsten Morgen klingelte Solveigs Lied in der Grunge-Version noch vor der eingestellten Weckzeit und zwei Sekunden nachdem ich schlaftrunken die grüne Fläche meines Handys gedrückt hatte, war ich hellwach. Ich hatte ohnehin kaum geschlafen. Hadebrands Assistent war dran. Hadebrand van Hinton war einer der Top-Stars unserer Ausstellung. Die Worte des Assistenten waren schrill, sie taten weh, sie zeugten von Panik. Dann war es eine Minute lang still und er flüsterte nur: „Die kopulierenden Dieselmotor-Zwillinge!“