Die neue Aschaffenburger Kunstausstellung im Schlosspark wird sabotiert. Eigentlich sollte die AB-ART-DOOR die Größen der internationalen Kunstszene versammeln. Kunstwerke von Weltruhm wie Sanchos „Illusorischer Indikativ“ oder die „Kopulierenden Diesel-Motor-Zwillinge“ von Hadebrand van Hinton sollten Aschaffenburg zum Nabel der innovativen Art-Welt werden lassen. Kurz vor der Eröffnung aber zerstört ein geheimnisvoller Unbekannter nach und nach die Kunstwerke zwischen Pompejanum und Schloss. Kommissar Sepp Ballschenk steht vor einem Rätsel.
Das, was übrig war von ihr, sah traurig über den Main. Die in gelb und rot leuchtende Fassade des Aschaffenburger Pompejanums passte in ihren fröhlichen Farben nicht zur Dramatik des Augenblicks. Die Sonne gab ihr Bestes – strahlte auf den Fluss, den Pompejaner-Weinberg und auch auf Hermine. Aber da war kein Leben mehr. Schon lange nicht mehr.
Die Kuh sah nicht gut aus. Fünfhundert Kilo feinstes Rinderhack glotzten doof über den Main. Aber sie machten nicht mehr Muh. Bis gestern hätte man noch denken können, dass die halbe Tonne zumindest zu einem kleinen Muh fähig wäre – also rein optisch. Eddie hatte sie nämlich extra für die Ausstellung in tagelanger Handarbeit zu einem Edelrind namens Hermine geknetet, geformt, ja geradezu gestreichelt. Gestern noch war die Kuh-Statue aus Hack ein Prachtexemplar und bis ins kleinste Detail einer Kuh ähnlich, dass man hätte denken können, es handele sich um eine echte. War es ja auch, aber eben eine tote, durch den Wolf gedrehte, die nun nach dem Tod wieder ihre ursprüngliche Gestalt durch Eddies filigrane Arbeit erhalten hatte. Er hatte ihr so ein Stück ihrer Würde zurückgegeben.
Gestern stand vor diesem Rindvieh, das trotz Hack eine Ästhetik ausstrahlte, die jene jeder Allgäuer-Almabtrieb-Kuh weit übertraf, eine überdimensionale Braten-Sauciere aus garantiert unechtem Meißener Porzellan. In der typischen Verzierung in Indisch Blau stand auf der Sauciere in großen schnörkeligen Buchstaben „HALTBARE MILCH – FETTARM, HOMOGENISIERT, LAKTOSEFREI“ und Hermine hatte wohl gerade einen großen Schluck davon genommen, denn auf ihrem sinnlichen Mund waren noch vereinzelte Milchspritzer zu sehen.
Eigentlich wollte Eddie auf der großen Aschaffenburger Kunstausstellung AB-ART-DOOR am folgenden Wochenende dann die Kuh nach und nach in kleinen Portionen auf den Grill schmeißen und so ein lebendiges, schrumpfendes, schwindendes Tier ein zweites Mal den Tod sterben lassen, als mundgerechte Häppchen. Er hatte eigentlich hinten beim Schwanz anfangen wollen und zum Schluss wären dann die traurigen, liebvollen Augen dran gewesen und Eddie hatte es kaum erwarten können zu erfahren, ob die Menschen dazu fähig sein würden.
„Weißt du, das ist es doch was Kunst soll. Sie soll aufrütteln, sie soll anregen, im besten Falle soll
sie etwas bewegen, etwas ändern. Und Hermine, weißt du, Hermines Ziel ist nichts Anderes, als unseren Umgang mit Lebewesen und Lebensmitteln zu überdenken. Sie will die Umwertung aller Herde sozusagen“, hatte Eddie begeistert erläutert, während seine Augen durch die Nickelbrille strahlten.
Das war gestern. Aber jetzt war alles anders. Heute, am Tag der Generalprobe für die AB-ART-DOOR, an dem alle Kunstwerke ihre Freilufttauglichkeit unter Beweis stellen und alle Installationen funktionieren mussten, war Hermine nicht mehr wiederzuerkennen. Der Kopf zerquetscht, der Schwanz abgetreten, Teile der Flanke mit faust-großen Gruben, die Hörner abgerissen und insgesamt war Hermine ziemlich in sich eingesunken.
Eddie saß fassungslos daneben auf dem Boden, die Ellenbogen auf die Knie aufgestützt, den Kopf in seine Hände vergraben, die nervös in seinen glänzenden halblangen Haaren wühlten. Er schluchzte: „Hermine. Meine geliebte Hermine! Wer macht denn so was? Die Kunst ist doch heilig. Ach, meine Hermine!“ Eddies Handy klingelte. Irgendwas von Freddy Mercury. Er ging ran, seine verheulten Augen weiteten sich, als drücke jemand seinen Hals zusammen und er kreischte nur: „Das Henne-Ei-Problem!!“ und rannte los.
Keine drei Minuten später standen wir am vordersten der drei Springbrunnen, der an das Pompejanum angrenzenden St.-Germain-Terrasse. Neben dem trockenen, mit Stroh ausgelegtem Brunnenbecken lag ein überdimensionales, ovales Gebilde auf der Seite – als hätte jemand ein IMEX umgestoßen. Überall lagen bunte Plastik-Eier verstreut auf dem Boden und mischten sich mit kalten Hähnchenschenkeln. Einige davon abgenagt, manche nur angebissen. Es sah aus wie nach einer Schlacht.
„Oh mein Gott, mein Henne-Ei-Problem“, wimmerte Eddie vor sich hin und wirkte ein kleines bisschen übertrieben. Von der monumentalen Wirkung der Henne-Ei-Installation war nicht mehr viel übrig. Noch gestern stand hier über dem Brunnen ein vier Meter großes Ei, dessen Schale selbst aus tausenden von bunten Ostereiern bestand, mit zwei künstlichen Hähnchenschenkeln. Neben dem Brunnen war für die Besucher der Ausstellung ein Hebel angebracht mit dem Hinweis: „Legen Sie los“. Zog der Besucher dann an dem Hebel, so „legte“ das Ei einen kalten Hähnchenschenkel, der auf ein Tablett in der Mitte des mit künstlichem Ostergras ausgelegten Brunnen-Nest plumpste, während aus einem Lautsprecher ein lautes Krähen zu hören war.
Ich wusste nicht, wie viele Stunden Eddie mit dem Henne-Ei-Problem verbracht hatte, aber was nun daraus geworden war, war ein Desaster. Ein Desaster für die AB-ART-DOOR, ein Desaster für Aschaffenburg, für die Kunstszene und vor allem für den in diesen Kreisen in Europa derzeit angesagtesten aller Künstler Eddie de Dösschloss.
Rezension: Biergarten-Asyl – Aschaffenburger Parkgeschichten
Neues aus der regionalen Literaturszene: Der Autor der Aschaffenburger Kneipengeschichten und der Aschaffenburger Schlossgeschichten hat nachgelegt. Michael Seiterle hat sich mit seinem Band „Biergarten-Asyl“ nun die Aschaffenburger Parks vorgenommen. In sechs Kurzgeschichten werden die Grünanlagen Aschaffenburgs zu dramatischen Schauplätzen von Verrat und Vertrauen, Lebenslust und Liebesfrust, Mord und Mysterien.
Wie auch schon bei den Schlossgeschichten beweist Seiterle dabei nicht nur sein literarisches Geschick, sondern auch sein Talent, die realen Plätze und Gegebenheiten unserer Heimatstadt mit fiktiven Storys zu bereichern – ohne dass es aufgesetzt oder fehl am Platz wirkt. Mit einer gehörigen Prise Humor und einer fundierten Kenntnis der Schauplätze führt uns der Autor in den Nilkheimer Park, den Schönbusch, den Schlosspark, ins Schöntal, auf die Großmutterwiese und natürlich in die Fasanerie.
So vielfältig wie unsere Parks sind auch die Themen und Schicksale, die Seiterle anpackt: Es geht um Fremdenfeindlichkeit, moderne Kunst, Samenspenden, Faschingsmorde, Schnitzeljagden und sogar um einen Agentenaustausch. Die Geschichten sind spannend, lustig, ironisch, nachdenklich, tiefgründig und echt aschebescherisch. Ein Muss also für jeden Aschaffenburger – und auch absolut lesenswert für alle Anderen!
„Biergarten-Asyl – Aschaffenburger Parkgeschichten“ ist im Alibri-Verlag erschienen und kostet 12 Euro.