Vorab: Die hier genannten Personen sind nicht frei erfunden, diese gibt es – so glaubt man kaum – tatsächlich. Und ist diese Darbietung Satire? Ja, Realsatire – so real, dass mir der Mund offen steht, es mir Tränen in die Augen treibt: vor Lachen, vor Angst, vor Ärger. Sollte ich mit meinen Worten hier irgendjemanden aus der Riege der unfehlbaren Wählbarkeit auf den Fuß getreten sein: ENTSCHULDIGUNG … für nix! Ihr habt mich um eine großartige Chance gebracht, mit meinem Sohn auf meiner abendsonnenbeschienenen Terrasse zu sitzen und mit ihm positiv über Politik zu diskutieren, zu streiten und ein -Vater-Sohn-Bier zu trinken. Oder zwei. Daher noch mal: Danke … für nix!
20 Jahre habe ich mich auf diesen Tag gefreut. 20 Jahre habe ich ein Kind groß gezogen und versucht, Politikverdrossenheit erst gar nicht aufkommen zu lassen. Ich habe ihm die Welt erklärt, das Verständnis für Demokratie, erst- und zweitgeimpft und auch die jährliche Auffrischung nie verpasst. „Demokratie mein Sohn …“, habe ich gesagt, „… Demokratie ist das, was bei uns zu Hause Utopie ist. Wir dürfen zwar diskutieren, aber Mama sagt, wo es lang geht. Daher ist es wichtig, sich in der richtigen Demokratie zu versuchen, da, wo Stimme zählt, wo Visionen zu Realitäten werden, wo das Volk der Souverän ist …“, ich Narr!
20 Jahre habe ich mich auf diesen Tag gefreut: „Papa, ich darf nun endlich wählen und ich habe mir eine Meinung gebildet. Diese Partei vertritt meine Interessen, ihre politischen Ziele stimmen zum großen Teil mit dem überein, was mir im Leben wichtig erscheint. Und diese Kanzlerkandidatin, dieser Kanzlerkandidat: ein Mensch mit klarer Haltung – gradlinig, ehrlich, offen, sympathisch, bei dieser Person habe ich einfach ein gutes Bauchgefühl“, plopp, Traumblase zerplatzt.
Nun die auf dem Sofa lümmelnde Realität: „Ich habe keine Ahnung, wen ich bei der Bundestagswahl wählen soll – die gehen alle gar nicht. Lügner, Grinsekater, Aussitzer, verkappte Nazis, Wirtschaftshörige, Lifestyle-Linke ohne Führung. Das ist keine Wahl, das ist eine Qual!“ Was soll ich ihm nur antworten? Ich kann es zumindest versuchen …
Lügner?
Die Spitzenkandidatin Annalena Baerbock von den Grünen als Lügnerin zu bezeichnen, halte ich für etwas sehr weit hergeholt. Aber eine Politikerin, die ihren Lebenslauf schönt, also aufpimpt, also Sachen sagt, die nicht der Wahrheit entsprechen oder Sachen nicht angibt und damit ein gewisses Bild entsteht … ist das ehrlich? Auch ich habe meinen Lebenslauf an der ein oder anderen Stelle gepimpt. Orientierungsphase, du weißt schon. Aber das habe ich beim ersten Date gemacht und ich habe mich damit um ein zweites Date und nicht für das Kanzleramt beworben. Und dann noch dieses „blöde Versäumnis“ mit den nicht gemeldeten Nebeneinkünften. Die Grünen mit ihren Predigten für Transparenz, das mit der Glaubwürdigkeit ist echt ein Thema. Dass es mit „nicht gehübschter“ Vita ebenfalls prima geht, hat Joschka Fischer einst bewiesen: Taxifahrer, gewalttätiger Demonstrant, begnadeter Redner und letztendlich ein geachteter Außenminister. Auf der anderen Seite: Ohne die Grünen befänden wir uns umweltpolitisch immer noch zwischen Atommeiler „Isar 2“ und dem Braunkohlekraftwerk in Espenhain. Daher, liebes Kind, wenn du gewillt bist, Meldungen aus dem Kanzleramt einem Faktencheck zu unterziehen: wählbar!
Grinsekater?
Oh mein Gott! Die reife Frucht des Wahlsiegs musste nur gepflückt werden. Sie wartet nur auf die wenige Millimeter entfernten Hände von Heilsbringer Markus Söder, dem bayerischen Stern am christlich-sozialen und christlich-demokratischen Firmament. Eine überwältigende Mehrheit der Wähler in Deutschland, ja sogar in Schleswig-Holstein, würde den fränkischen Messias zu unserem Kanzler machen, sollte er direkt gewählt werden können. Aber nein – Fairness gegenüber den Mitbewerbern der anderen politischen Parteien muss ja sein – und Augenhöhe. Daher beschließt die große Schwester CDU dem kleinen Markus Söder von der bayerischen CSU den Dreck unter den Fingernägeln nicht zu gönnen – Armin Laschet soll es richten, die Aachener Frohnatur. NRW Ministerpräsident, Ehrensenator der Kölner Karnevalsgesellschaft und angeblich (laut seiner Familie) abstammend von Karl dem Großen, dem Kaiser. Wenn das so ist, glaubt Markus sicher auch an seine Verwandtschaft mit Sonnenkönig Ludwig XIV. – oder eher doch Brutus? Die größte Stärke des Unions-Kandidaten Armin ist zweifelsohne sein unerschütterlicher und mit allen Wassern gewaschener Humor: Erftstadt hat wegen der Flutkatastrophe zu viel Wasser – Armin lacht aus vollem Herzen, Grünheide hat wegen Tesla zu wenig Wasser – Armin lacht aus vollem Herzen. So wünsche ich mir einen Kandidaten: selbst in dunklen Stunden den Humor nicht verlieren. Daher mein Sohn: ein Kanzler mit Freude und kaiserlichem Glanz: wählbar!
Aussitzer?
Auf jeden Fall! Olaf Scholz kann es nämlich! Also auch aussitzen. Die größte Leistung der SPD ist es im Moment, den Kopf einzuziehen, in Deckung zu gehen und auszuharren. Die Fehler machen andere und aus diesen Fehlern kann man lernen. Trotzdem hätte ich es mir in den letzten Jahren so gewünscht, eine starke Opposition zu haben mit einer SPD, die den Finger in die Wunde legt, anstatt diese während der Junior-Rolle in der Regierung notdürftig zu bedecken; darunter schwelt und stinkt die Wunde nämlich weiter – auch zum Himmel. Lasalle, Ebert, Scheidemann, Brandt – sie drehen sich nicht im Grabe rum, sie rotieren ob des Verfalls einer Volkpartei, der Partei der Arbeiterklasse. Wobei – der Verfall scheint aufgehalten, die Umfragewerte der SPD steigen wieder und Vizekanzler Olaf rüttelt doch tatsächlich am Gartenzaun des Kanzleramts. Wer hätte das gedacht bei Slogans wie: „Stabile Rente, gute Pflege“ – das kommt in meinem Alter gut an. Moment – auf welcher Höhe stabil genau meint Olaf das mit Rente, wenn die demografische Entwicklung dieses Rentensystem kollabieren lässt? Und mit dieser Rente soll dann gute Pflege bezahlt werden? Echt jetzt? Ich bin gespannt! Simon – wenn du möchtest, dass dein alter Herr stabilen Schrittes und gut gepflegt seinen Ruhestand genießt: wählbar!
Verkappte Nazis?
Die Alternativen – mein Weltbild gerät ins Wanken! Früher Jesuslatschen, heute Sympathien für Springerstiefel, früher lange Haare, heute Sympathien für Kurzhaarschnitt bis fast zur Glatze. Früher Multikulti und heute Deutschland von der Maas bis an die Memel. Ich habe verstanden, die Alternativen von damals sind nicht die Alternativen von Deutschland. Allmachtsfantasien, Fremdenhass, nationaler Größenwahn und verbale Dünnschissentgleisungen – das verbinde ich mit der AfD. Beispiele gefällig? „Die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte …“ (Weidel); „Wenn wir kommen, wird aufgeräumt, wird ausgemistet …“ (Frohnmaier); „Wir werden sie jagen, wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen, wir werden uns unser Land zurückholen …“ (Gauland); „Wir werden auf den Gräbern tanzen und die 68er-Erben auf die Sondermülldeponie der Geschichte befördern …“ (Kalbitz); „… und wir werden sie dann (die Türken, Anm. d. Verf.), Gott sei Dank, auch in Anatolien entsorgen können …“ (Gauland); „… diejenigen, die Toleranz predigen, grenzen andere aus – nicht wir …“ (Reil); „… wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen!“ (Gauland); „wir haben die Türken nicht vor Wien geschlagen, um ihnen jetzt Berlin zu überlassen“ (Kalbitz). Der wahrlich herrliche Schlusspunkt kommt von Beatrix von Storch bei einer Rede im Deutschen Bundestag: „Meine Damen und Herren, hier sitzen nicht nur Antidemokraten, es gibt hier eine Partei, die kämpft für die Demokratie und das ist die AfD!“ Gut gebrüllt, du Vogel mit dürrem Hals und langem Schnabel! Wobei Beatrix’ Name meines Erachtens eine Beleidigung für ihren gefiederten Namensvetter darstellt. Liebes Kind, ich halte dagegen: Die AfD ist nur ein antidemokratischer Vogelschiss auf der langjährigen politischen Landkarte. Aber leider nach unseren demokratischen Maßstäben wählbar. BITTE TU ES NICHT!
Wirtschaftshörige?
Nein, die FDP ist nicht der eingetragene Lobbyverband der Wirtschaft. Das hast du wirklich falsch verstanden, mein Sohn. Die FDP ist eine Partei, man kann sie wählen. Und sie sind so kreativ auf ihren Wahlplakaten. „Digital first.
Bedenken second.“ Mensch, da hat der ehemalige Onkel aus Amerika ja einen Wahlslogan geklaut. Und was bedeutet das überhaupt? Ohne meine Bedenken dürfen Amazon, Google, Apple oder Facebook machen was sie wollen? Ich weiß nicht so recht, da habe ich schon so meine Bedenken. Generell mal laut gelallt – ich glaube, beim Verfassen des Parteiprogramms der Liberalen wurde mächtig Alkohol gekippt. Wie kann man denn nüchtern auf der einen Seite eine Subventionsbremse verlangen und andererseits Firmenerben damit subventionieren, indem man die Erbschaftssteuer für Superreiche noch mehr absenken will? Oder die Aufhebung der Budgetierung im Gesundheitswesen – das macht alles viel teurer, aber andererseits will man den Bürger entlasten (indem er die Rechnung zahlt?) … wo bitte gibt es diesen Schnaps zu kaufen? Und rechnen können sie im Parteiprogramm der FDP auch nicht: „Ein Durchschnittsverdiener darf nicht fast schon den Spitzensteuersatz zahlen.“ Ja, das darf er nicht, denn das machen nur etwa sieben Prozent der deutschen Bürger – und nun (Achtung, Subtraktion!): 93 Prozent zahlen den Spitzensteuersatz NICHT. Jetzt wird es kompliziert, aber ihr könnt mir glauben, liebe FDP: Sieben Prozent ist NICHT der Durchschnitt, es sei denn, diese sieben Prozent sind FDP-Wähler und ihr wollt euer Klientel bedienen. Nein, die FDP ist nicht der Lobbyverband der deutschen Wirtschaft – und daher, vor allem wenn du nicht den Spitzensteuersatz bezahlen möchtest: wählbar!
Lifestyle-Linke?
Das Wort hast du geklaut! Sarah Wagenknecht war es, die Reinkarnation von Rosa Luxemburg, die ihre eigene Partei als „selbstgerecht“ und „linksliberal“ und ihre Parteigenossen als „Lifestyle-Linke“ bezeichnet hat. Nun versucht sie mit einem linken Gegenprogramm in Buchform die Spiegel-Bestseller-Liste zu stürmen. Solch ein kontraproduktives Gerangel in der Partei, die immer recht hat, hätte es früher nie gegeben, damals … als ein Gregor Gysi mit rhetorisch spitzer Zunge den Bundestag auf Trab hielt. Oder Oskar Lafontaine, der 1990 noch für die SPD vergeblich die Kanzlerschaft anstrebte, zur Linken wechselte, diese bis 2010 als Parteivorsitzender führte und sich nun als Oppositionsführer der Linken im Saarland versucht. Die hatten den Laden im Griff! Und nun – die Linken suchen sich selbst, werden aufgerieben zwischen Querdenkern und AfD, verlieren ihre Wählerschaft … jede Wahl ein bisschen. Dabei klingt es ganz gut – mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Mindestlohn, Grundversorgung statt Hartz IV – das Parteiprogramm der Linken. Aber dann das: Linke unterstützen Boykottveranstaltungen gegen Israel oder äußern Verständnis für die grenzüberschreitenden Machtansprüche von Väterchen Putin. Sie fordern die Auflösung der Nato ersetzt durch ein Sicherheitsbündnis mit Russland (die AfD verfolgt übrigens ähnliche Pläne, ein Kreis hat nun mal keinen Anfang und kein Ende, nur so nebenbei). Sie bezeichnen Regierungen als „Geißel“ der Vermögensbesitzer und Spekulanten. Klar doch! Sie bezeichnen die DDR als „missglückten Sozialismus-Versuch“. Was wohl die Kaninchen dazu sagen? Nichtsdestotrotz – wenn dir soziale Gerechtigkeit so am Herzen liegt, dass du die ideologischen Wirrungen ausblenden kannst: wählbar!
Mein Sohn, sei mir nicht böse, ich lasse die Grauen, Weißen, Bunten, Lilafarbenen, die noch mehr Braunen und die ganz Dunkelbraunen, die Bienenretter, die Marxisten und Leninisten, die Querdenker und Coronaleugner weg. Ich lasse die Satiriker und Piraten weg und auch die, deren Namen ich noch gehört habe oder nie wieder hören will. Sicher gibt es über die eine oder andere Partei etwas zu sagen, über manche darf man eigentlich kein Wort verlieren. Ich bin verwirrt. Und fertig. Und DU, Du hast sie nun. Die Qual der Wahl. Danke sagst du? Dafür nicht.