Große Vorfreude in Aschaffenburg. Der Ministerpräsident hat sich zum Frühschoppen im Fasanerie-Biergarten angesagt. Doch bei den Vorbereitungen zum großen Festtag taucht im Aschaffenburger Park immer wieder ein mysteriöser Fremder auf, der ein seltsames Verhalten an den Tag legt.
Dann war es fast soweit. Bis zur Schlacht im Deutschen Krieg in der Fasanerie und dem geheimnisvollen Säbel-Duell zweier Hitzköpfe im 19. Jahrhundert, bis zum Kampf am Kartoffelsalatbuffet und vor allem bis zum Erklingen der Bayernhymne waren es nur noch zwei Tage. Je näher der Termin rückte, desto größer wurden die Bedenken, ob ich richtig gehandelt hatte, diesen Mann nicht den Sicherheitsbehörden zu melden. Klar – er war jetzt so eine Art integrierter Biergarten-Flüchtling, aber war das nicht bei jenem Attentäter vor einigen Jahren genauso? Sind nicht gerade die Schläfer, diejenigen, die sich besonders angepasst, integriert und unauffällig verhalten?
Die zwei Tage waren voller Generalproben, Absprachen, Protokollkorrekturen. Aber eben auch voller Zweifel. Zwei Seelen in meiner Brust. War ein notizenmachender Mann mit dunklerer Hautfarbe, der auch noch möglicherweise einen Koran besaß, hinkte, keinen Alkohol trank, aber eben seit Wochen stundenlang in einem Biergarten herumlungerte und der Blasmusik lauschte oder endlose Streifzüge durch den Fasanerie-Park machte, ein Sicherheitsrisiko? Eine Bedrohung für unser Land und unseren Ministerpräsidenten? Dann war der große Tag gekommen. Die Polizei war schon seit den frühen Morgenstunden vor Ort und natürlich dutzende Personenschützer, denen Kabel aus den Ohren wuchsen, und die alle aussahen, wie Möchtegern-Men-in-Black. Die Schlacht um Aschaffenburg beim Generationenspielplatz war ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen – die Österreicher hatten sich unter großen Verlusten vor den aus Frohnhofen im Spessart anrückenden Preußen in Richtung Innenstadt zurückgezogen.
Ferdinand von Andrian erlag blutüberströmt in einer schauspielerischen Meisterleistung einem gekonnt geführten Säbelstreich, die Enten und Reiher und sogar die Schildkröten schwammen Spalier, als der Ministerpräsidenten-Tross am See vorbeispazierte. Keine Anschläge, keine Explosionen, kein Scharfschütze. Aber doch war ich mir sicher, dass etwas in der Luft lag.
Der engere Landesparteikreis zog sich dann in das Hofgut zu internen Gesprächen zurück. Mir blieb Zeit, im Biergarten nach dem Rechten zu sehen. Trotz des reibungslosen Ablaufs spürte ich im Summen der Bäume, in der von Gebratenem angereicherten Luft, im Gewimmel der Wichtigkeiten, dass uns noch etwas bevorstand. Noch war im Biergarten alles, wie es sein sollte. Nur die Schlange an dem Eingangstor, über dem auf einem weißen gebogenen Schild „HERZLICH WILLKOMMEN“ von zwei Schlappeseppel-Logos eingerahmt war, war recht lang geworden. Viele Aschaffenburger wollten natürlich den Ministerpräsidenten höchstselbst aus der Nähe sehen. Aber es wurde punktuell kontrolliert. Nicht jeder, aber manch einer wurde einer intensiveren Leibesüberprüfung unterzogen. Und während die einen schon bei der zweiten Maß saßen, standen die anderen noch in der Schlange und warteten auf das Urteil der Cerberusse.
Plötzlich wurde es etwas stiller. Natürlich zogen die Cerberusse Ali sofort aus der Schlange heraus und wollten ihn in einen Streifenwagen verfrachten. Das blieb allerdings nicht unbeobachtet. Und während sich in meinem Magen ein mittelgroßer Klos bildete, der mir davon erzählte, wie fahrlässig es doch von mir gewesen sei, diesen höchstverdächtigen Mann nicht den Sicherheitsbehörden zu melden und wie naiv das doch gewesen sei und dass nun wenigstens der Staatsschutz selbst gerade noch rechtzeitig diesen Gefährder aus dem Verkehr gezogen hatte, ereignete sich auf dem Parkplatz ein Musterbeispiel an spontaner Solidarität und Völkerfreundschaft: Viele Gäste aus der Schlange, darunter viele Parteifreunde, aber auch andere Stadträte und Honoratioren lösten sich aus der Schlange und prügelten verbal auf die verdutzten Sicherheitsleute ein. Der Dirigent der Bläser – schon leicht schwankend und noch mit Kartoffelsalatresten am Mundwinkel – hielt eine flammende Rede für Toleranz und Menschlichkeit und der Pfarrer zitierte erstmals ohne zitternde Stimme und Spickzettel das Neue Testament. Diesem geballten Ansturm an Fürsprache waren die Gorillas nicht gewachsen. Ali – zur Feier des Tages in seinem feinsten, hellen Gewand gekleidet – schlurfte erhobenen Hauptes auf seinen Platz, der natürlich noch frei war, streckte sein Bein aus und ruhte in sich selbst.
Eine Dreiviertelstunde später wurden wir alle Zeuge eines weiteren denkwürdigen historischen Ereignisses in der Fasanerie, das es sogar auf die Titelseiten der großen Tageszeitungen schaffte und sicher bei zukünftigen Ministerpräsidentenbesuchen nicht im Repertoire der Laienspielgruppen fehlen wird.
Es war nie ganz klar, ob es örtliche AfD-Aktivisten waren oder einfach nur eine Nachlässigkeit des Caterers, aber der Kartoffelsalat war so verdorben, dass fünf Minuten vor Ankunft des Ministerpräsidenten die komplette Blaskapelle kotzend auf dem eben erst geräumten Schlachtfeld des Deutschen Krieges lag und sich dort mit schrecklichen Magenkrämpfen wandte. Es kam nun zu einer höchst peinlichen Situation: Der Ministerpräsident stolz und erwartungsvoll am Rednerpult. Die bayerische Fahne liebevoll säuselnd im lauen Sommerwind. Am Himmel freundliche flauschige Wattebäusche. Der Bürgermeister sagte die Blaskapelle an, die nun eigentlich in Lederhosen und Kniestrümpfen auf die Bühne marschieren sollte. Stille. Nichts passierte. Noch einmal das zögerliche Aufrufen der Musiker. Ein kritisches Augenbrauenziehen des Ministerpräsidenten. Knisternde Stille. Angespannte Stille. Die Katastrophe war da. Der Gipfel aller Peinlichkeit erreicht. Aschaffenburg stand kurz davor zum Gespött Bayerns zu werden. Ein Frühschoppen mit dem bayerischen Ministerpräsidenten ohne Blasmusik! Doch dann passierte es.
Zunächst im allgemeinen Schweigen unbemerkt, bewegte Ali seinen Arm. Er griff an sein steifes Bein und man hörte ein Klacken. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Personenschützer stürmten auf ihn zu, aber sie waren nicht schnell genug. Ali zog einen langen schmalen Gegenstand aus seinem Hosenbein hervor. Dann legte er an. Die Security war viel zu weit weg von ihm. Eine Sekunde später ertönte zum ersten Mal „Gott mit dir du Land der Bayern“ auf einer arabischen Nay-Flöte unter dem weißblauen Himmel und zauberte ein Strahlen in die Augen des Ministerpräsidenten.