Vor 20 Jahren im Keller eines Bistros am Untermain. Vier mehr oder weniger junge Männer treffen sich dort, stecken über mehrere Stunden hinweg heimlichtuerisch die Köpfe zusammen, tragen sich gegenseitig geheimnisvolle Texte vor, studieren diverse Zettel, diskutieren teilweise lautstark miteinander, hin und wieder durchbricht Gelächter den konspirativen Charakter der Zusammenkunft. Jede Woche wiederholt sich dieses Ritual und es markiert nichts weniger als die Geburtswehen des „Vereins zur Förderung der Dichtung am Untermain e.V.“ Doch was genau passierte damals im Untergeschoss der Gaststätte?
Um die sowieso angesetzten Schoppen-Abende mit etwas mehr Substanz zu füllen, musste jeder aus dem eloquenten Quartett ein höchstpersönlich selbstverfasstes Gedicht zu einem vorab definierten Thema mitbringen, welches dann in der Runde teilweise sehr ernsthaft und kontrovers besprochen wurde. Zum Ende eines jeden Treffens wurde dann das neue teils sehr abstrakte Thema für die kommende Woche definiert.
Ein Radiointerview als Startschuss für einen Verein mit vielen Ideen
Irgendwann wurde der Bayerische Rundfunk auf die illustre Truppe aufmerksam und schickte einen Reporter zum Zwecke eines Radiointerviews vorbei. Andere Medien folgten und auf einmal wurde aus der bierseligen Idee der besagte Verein mit dem etwas sperriganmutenden Namen. Und dieser sprudelte nur so vor Ideen, wenn es darum ging, seiner Bezeichnung alle Ehre zu machen: Erste Gedichtwettbewerbe samt großer Abschlussveranstaltung wurden organisiert, immer weitere aktive Dichter und Lyriker kamen hinzu und aus den ersten Lesungen nach dem Prinzip „Poesie à la Carte“ wurde eine bis heute bestehende Veranstaltungsreihe.
Inzwischen organisiert der Verein auch die Aschaffenburger Buchmesse, die jüngst stattfand und mit neuen Rekordzahlen in die Vereinsgeschichte eingeht. Den krönenden Abschluss des Jubiläumsjahres stellt die Jubi-Ausgabe von „Poesie à la Carte“ dar, die sich am 10.12. im aktuellen Wohnzimmer des Vereins, dem Café Krem, zuträgt.
20 Jahre „Verein zu Förderung der Dichtung am Untermain e.V.“, vielen auch bekannt unter dem Kürzel „Main-Reim“ – die beste Gelegenheit für einen unlyrischen Schnack zwischen zwei Vereinsgründern, die die Anfangstage aktiv erlebt haben. Der eine, Michael Seiterle, ist nicht nur (nach wie vor) Vorsitzender des Vereins, sondern auch erfolgreicher Buchautor, der andere schreibt für dieses Magazin …
© Till Benzin
Aschaffenburg Buchmesse
FRIZZ Das Magazin: Im Himmel mischst du dich mit Grau / Du schmückst die Federn stolz am Pfau / glänzt in den Augen einer Frau / bist Motto meist des Manns am Bau. Was sagt dir das?
Michael Seiterle: Das dürfte ein Gedicht zum Thema „Blau“ sein, das wir in den Anfangszeiten – vermutlich – 2004 oder 2005 in unserem Dichterkreis „besungen“ haben. Begonnen hat seinerzeit alles mit einem „Fischgericht“ in Obernburg. Das vermeintliche „unlyrische“ unserer Themen zieht sich seit Beginn durch unsere gemeinsame Dichtung, wobei „Fischgericht“ beileibe nicht das Abwegigste war. Da gab es auch Themen von A wie Abwrackprämie, über K wie Kreiswehrersatzamt bis W wie Windkraftrad oder Z wie Zombieapokalypse … mittlerweile über 300!
An die Geburt des Literarischen Zirkels und die Gründung des Vereins kann ich mich noch gut erinnern. Die wöchentlichen Treffen, um die Selbstverfassten vorzutragen. Es gab viele heiße Diskussionen und auch immer was zu lachen. Und auf einmal saß der Bayerische Rundfunk da. Wie hast du diese Zeit erlebt? Ab wann wurde für dich die Sache ernst?
Dass vier lyrisch völlig unerfahrene Menschen sich mit außergewöhnlichen Themen, wie den genannten, sprachlich auseinandersetzen war schon etwas Besonderes und vor allem wie du richtig sagst: ziemlich lustig. Ernst wurde es eigentlich nie. Wir haben irgendwann mehr aus Selbstironie heraus dann einen offiziellen Verein gegründet, der seit 2004 im Vereinsregister eingetragen und auch als gemeinnützig anerkannt ist. Das Kreative zu Bürokratisieren war eine Herausforderung – ist aber hier und da auch bis heute für die Umsetzung unserer Events hilfreich.
Die Vereinsgründung habe ich miterlebt, bei der ersten öffentlichen Lesung war ich noch dabei, die ersten Gedichtwettbewerbe habe ich auch noch mitgestaltet. In der Musikwelt würde man sagen, ich sei danach ausgestiegen um mich auf meine Soloprojekte zu konzentrieren. Wie ging es dann mit dem Verein weiter, wie hast du die Entwicklung erlebt?
Der erste große Schritt war, dass wir mit unseren in dem Kreis entstandenen Werken mit Lesungen an die Öffentlichkeit gegangen sind. Ziemlich schnell hatten wir das Konzept namens „Poesie à la Carte“ entwickelt: Wir packen die entstandenen und diskutierten Werke auf eine lyrische „Speisekarte“ und während der Lesung darf das Publikum selbst entscheiden, zu welchem Themen es gerne Gedichtvariationen hören möchte. So läuft jede Lesung anders und das Publikum ist aktiv einbezogen in die Menüwahl und muss nicht nach dem Motto „Friss oder Stirb“ wehrlos konsumieren. Ziemlich schnell kamen auch Projekte in Schulen mit dazu: Workshops, Lesungen usw. und wie du schon erwähnt hast, unsere Gedichtwettbewerbe, die dazu dienen sollen, dass lyrische Schaffen der Region zu erfassen und dichterische Schätze zu heben. Der nächste Höhepunkt war dann die erste Aschaffenburger Buchmesse im Schloss, die unser Verein organisiert hat. Stolz sind wir schon, dass alles, was wir begonnen haben, noch immer Bestand hat: Es gab mittlerweile schon 6 Wettbewerbe, fast 100 Lesungen und kürzlich konnten wir die 5. Aschaffenburger Buchmesse begehen – mit Rekordbeteiligung und Rekordbesucherzahlen!
© Till Benzin
Aschaffenburg Buchmesse
Du bist als einziger aus der Ursprungsbesetzung noch dabei. Konnte der Verein jemals wieder mit den jeweils aktiven Lyrikern an das Niveau der Anfangstage herankommen?
Das mit dem Niveau ist ja so eine Sache, wer mag sich schon herausnehmen, was niveauvolle Lyrik ist und was nicht. Kunst ist immer auch Geschmackssache. Aber klar, es muss natürlich irgendwie auch passen und eine gegenseitige Bereicherung entstehen in der Beschäftigung mit unseren Gedichten. Wenn du die Anfangstage ansprichst: Es gibt schon Gründe, warum der eine oder andere keine Gedichte mehr, sondern für FRIZZ Das Magazin schreibt (lacht laut).
Lassen wir mal so stehen. Aber Spaß beiseite: Aus der ursprünglichen Schnapsidee hat sich ja tatsächlich ein stets aktiver Verein entwickelt, dessen Protagonisten auf diverse Veröffentlichungen zurückblicken können und der regelmäßig die angesprochenen Events durchführt. Bist du zufrieden mit dem Status Quo oder geht da noch mehr?
Mehr geht immer – muss aber nicht. Wir sind ein kleiner Verein, der bewusst auch nur in begrenztem Rahmen wirken möchte. Aber klar: Viele von uns sind neben der Lyrik auch andersschreibend unterwegs und jeder hofft auf den nächsten Beststeller. Ich persönlich plane den Literaturnobelpreis 2026 für mich ein! (lacht)
Wie viele Aktive gibt es im Verein aktuell? Trifft man sich noch wöchentlich und trägt seine Gedichte nach dem ursprünglichen Schema vor?
Wir sind 10 aktive Lyriker und Lyrikerinnen. Die Treffen sind alle zwei bis drei Wochen und die Art und Weise des Austauschs ist immer noch dieselbe. Allerdings finden viele Treffen mittlerweile digital statt.
© Till Benzin
Aschaffenburg Buchmesse
Gibt es ein Werk, eine Begebenheit, Anekdote, einen Moment oder eine Situation, die dir aus 20 Jahren Verein zur Förderung der Dichtung am Untermain immer in Erinnerung bleiben wird?
Weil du den Bayerischen Rundfunk angesprochen hast. Es gab immer wieder Interesse der Medien an unserem Wirken. Ich erinnere mich an einen Pressefototermin zu einem großen Zeitungsbericht über den Verein und wir waren alle aufgeregt vorab: Was ziehe ich an? Sind die Haare schön? Wie schaue ich auf dem Foto – solche Sachen. Am Abend vor dem Termin hatte ich einen Fahrradsturz und die eine oder andere Schürfwunde im Gesicht und ein anderer Kollege ist zuhause gestürzt und hatte eine komplett verschrammte Gesichtshälfte. Es war eine große Herausforderung für den Fotografen, uns drei „unverwundet“ in Szene zu setzen!
Mit welchen großen Plänen geht der Verein ins nächste Jahr?
Nach Buchmesse, Lyrikwettbewerb und Vereinsjubiläum ist unser Plan für nächste Jahr, erst einmal keine Pläne zu machen, sondern uns vor allem wieder ausschließlich der Lyrik zu widmen.