Fast jeder wird ihn kennen, den gefürchteten Gedichtvortrag im Deutschunterricht. Die Angst, sich zu versprechen oder ganze Verse zu vergessen, lassen die Hände schwitzig werden. Genau solch eine Demütigung muss die Hauptfigur Johann bzw. Hanno Buddenbrook in Thomas Manns Jahrhundertroman „Buddenbrooks: Verfall einer Familie“ durchleben. Sein Versuch, „Schäfers Sonntagslied“ vor der versammelten Familie vorzutragen, missfällt seinem Vater, der sich nicht scheut, ihm einen harschen Kritikpunkt nach dem anderen zu eröffnen. Es folgt ein Trauma. Es handelt sich hier um eine der berühmtesten Stellen aus Thomas Manns 1901 erschienenen Familienroman, für den der deutsche Autor 1929 den Literaturnobelpreis erhielt. Thomas Mann, der 2025 seinen 150. Geburtstag feiert, versteht es wie kaum ein anderer, Charaktere mit beeindruckender Tiefe zu erschaffen und ihnen zugleich mit außergewöhnlichem Mitgefühl zu begegnen. Er und seine Arbeit faszinieren bis heute – das zeigen die vielen internationalen Veranstaltungen zu Ehren des Schriftstellers im Jubiläumsjahr 2025 sowie die unzähligen Verfilmungen und Inszenierungen seiner Werke. Sein Romanfragment „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ wurde bereits zweimal filmisch adaptiert, zuletzt 2021. Doch nicht nur seine Romane stehen im Fokus, auch Mann selbst rückt als Autor ins Rampenlicht des gesellschaftlichen Interesses – etwa in der Arte-Dokumentation „Der Zauberberg – Thomas Manns Jahrhundertroman.“
Unlängst hat beispielsweise der italienische Kulturminister unter der Meloni-Regierung, Alessandro Giuli, auf der Frankfurter Buchmesse 2024 den „Zauberberg“ zitiert und mit Anspielung auf die „fruchtbaren“ Dialoge zwischen Hans Castorp und Lodovico Settembrini daran erinnert, dass ein kultureller Dialog zwischen Nationen durch Literatur stattfindet: Die „Exzesse unserer Zeit“, so sagt er, könnten durch „Lektüre[n] unserer vergangenen Irrtümer“ hinterfragt werden. Wer die Frankfurter Buchmesse aufmerksam verfolgt hat, der weiß allerdings auch, dass die italienische Regierung einen markanten Einfluss auf eingeladene Autoren praktizierte, der zu mehreren Verzichtserklärungen teils linkspolitischorientierter, intellektueller Schriftsteller führte, in der offiziellen Delegation nach Frankfurt zu reisen. Zwar ist der pluralistische Ansatz in der Eröffnungsrede des italienischen Kulturministers positiv zu deuten, allerdings wirkt es geheuchelt, wenn im gleichen Zuge zensurähnliche Vorgänge stattfinden, die einen kulturellen Dialog im Großen und Ganzen verhindern. Dass Giuli, der auf einen Dialog zwischen Italien und Deutschland mithilfe Thomas Manns „Zauberberg“ hinweist, also mithilfe einer Lektüre, die aus der Zeit kurz vor den Gräueltaten des Ersten Weltkriegs und den imperialistischen sowie nationalistischen Bestrebungen Deutschlands und Italiens erzählt, führt zu einem sehr faden Beigeschmack seines Bezugs. Es zeigt allerdings, dass Thomas Mann – ob politisch oder anderweitig zitiert – aktuell ist und bleibt.

© ETH Zürich
Thomas Mann
Was also macht Thomas Mann auch heute noch so lesenswert? Oder anders gefragt: (Wie) Kann man ihn noch lesen? Das A und O ist: Wer Thomas Mann lesen möchte, muss sich Zeit nehmen. Seine komplexen Sätze, die kunstvollen, immer zugleich zwiespältigen Persönlichkeiten und natürlich seine politischen, gesellschaftlichen, moralischen und theoretischen Einschübe in seinen Texten setzen eine behutsame Lesepraxis voraus. Dass Thomas Mann mit seinen Texten ein Historiker seiner Zeit ist und seine Werke über das menschliche Dasein, Moral, Macht und Kunst reflektieren, begründet zwar die Allgemeingültigkeit seiner Texte, doch das eigentlich Beeindruckende liegt in der Tiefe und Menschlichkeit seiner Figuren: Szenen wie die von Hanno Buddenbrook lassen die Leser von heute mitfühlen und Anteil nehmen – mit einem Jungen wie Hanno, der am autoritären Vater kaputt geht, mit Gustav Aschenbach, der seine homoerotische Liebe in „Tod in Venedig“ nicht ausleben kann und daran zerbricht, mit Hans Castorp aus dem „Zauberberg“, der auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs aus der Sicht des Erzählers verschwindet, oder mit Felix Krull, dem maßgeschneiderten Hochstapler, dem die Welt zu Füßen liegt. All diese Figuren sind Mosaiksteine, die, zusammengesetzt, Thomas Manns einzigartige Fähigkeit zeigen, fiktive Persönlichkeiten mit Leben zu erfüllen. Sie sind auch heute noch unsere Wegbegleiter durch die Texte des Zauberers – wie Thomas Mann immer wieder betitelt wird – als Spiegel der eigenen Sehnsüchte, Ängste, Träume, oder auch einfach nur als unterhaltsame Freunde aus Tinte, die in seiner Literatur den Lesern stets Gesellschaft leisten.
Veranstaltungen in der Umgebung
Di., 3.6., 19.30 Uhr; vhs, Hanau
Vortrag: Thomas Mann, ein literarischer Weltstar
Mi., 4.6., 19.30 Uhr; Literaturhaus, Frankfurt
Dokufilmabend: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann
Mi., 11.6., 19.30 Uhr; Holzhausenschlösschen, Frankfurt
Vortrag: Dr. Wolfgang Schopf
Mi., 18.6., 20 Uhr; Literaturhaus, Wiesbaden
Autorenlesung: Tilmann Lahmes „Thomas Mann.Ein Leben.“
21.–23.8.; vhs, Aschaffenburg
Seminar: Thomas Mann und die Philosophie der Zeit