
Foto: Till Benzin
STREETS OF AB #2
Ob Naschkatze, Mojito-Fan oder Cineast: Alle Wege führen zur Sandgasse. An keinem anderen Fleckchen Aschaffenburgs kann man so entspannt den neuesten Arthouse-Streifen sichten und danach ausgiebigst über denselbigen mit Freunden in einer Bar diskutieren, ohne dabei weite Wege zurücklegen zu müssen. Dabei läuft man selbst nach dem siebten Bier (… oder Wein) nicht Gefahr, von einem unachtsamen Mitmenschen mit dessen fahrbarem Untersatz über den Haufen gehobelt zu werden – Fußgängerzone! Auch Geschichtsfanatiker und Shoppingqueens kommen hier im Herzen der Stadt keineswegs zu kurz. Höchste Zeit also, der Erlebnisgasse zwischen Scharfeck und Sandkirche ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken …
Auf dem Pfad der Heimatkunde wurden seit Teil 1 stolze 50 Meter zurückgelegt – vom Ende der Dalbergstraße bis zum unteren Ende der Sandgasse, an deren Anfang man gleich auf einen Laden trifft, der sehr fruchtig anmutet: Der Bären-Treff bietet nicht nur für die Kleinsten bunte Leckereien – Proseccobären, Meerestiere, Schmunzelbären und weiße Mäuse haben hier stets Hochkonjunktur. Man sollte sich unbedingt einmal in die Gummibärenkunde einweisen lassen! Wenige Meter weiter eine altehrwürdige Institution in Aschaffenburg: die Bäckerei Hench. Diese wurde bereits 1902 von Anton Hench und seiner Frau Berta gegründet und gehörte zu einer Reihe illustrer kulinarischer Handwerker, die zur damaligen Zeit die Sandgasse „besetzten“: So beheimatete die Straße, die um 1900 schlicht „Fressgass“ genannt wurde, etliche Metzger, Bäcker und Konditoren. Mittlerweile kann man schon die fünfte Hench-Generation hinter der Ladentheke erleben: Hanna, Lotta, Magdalena, Anna und Joschka Hench verkaufen Heimat – das originelle Schlappeseppelbrot, der leckere Welzebengel und manch andere regionale Spezialität bezeugen dies. Wer nun mutmaßt, dass die Sandgasse aufgrund des leckeren Sandkuchens der Bäckerei Hench ihren Namen trägt, der irrt: Da in längst vergangenen Zeiten Wasser aus dem Spessart, das Sand und Geröll mit sich brachte, bis nach Aschaffenburg floss und sich auf der Höhe der heutigen Sandgasse ablagerte, setzte sich jene Bezeichnung nicht nur im Volksmund durch.
Ein Paradies für Cineasten
Mit vollem Magen schafft man die nächsten Meter selbstverständlich nur schleppend. Ist auch gar nicht schlimm: Geschichtspause! Wie brandaktuell Vergangenes sein kann, zeigt die Versammlung am 18.7.1901: An diesem Tag diskutierte der „deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband-Ortsgruppe Aschaffenburg“ im damaligen Schützenhof in der Sandgasse 21 das Ladenschutzgesetz. Die zentrale Frage: Wie erstrebt man den Ladenschluss um 20 Uhr? Die meisten anwesenden Kaufleute stimmen für eine Öffnung ihrer Geschäfte bis zu dieser Uhrzeit …
Für Großstadtflair in Aschaffenburg sorgte auch der 24.1.1920: An jenem Tag wurden die Varieté-Lichtspiele Tivoli, ebenfalls in der Sandgasse 21, eröffnet. Mit über 500 Sitzplätzen war es fortan das größte Kino der Stadt. Apropos Filmtheater: Nach ein paar Metern lohnt es sich, erneut ein Päuschen einzulegen – vielleicht läuft ja ein spannender Streifen im Casino? Das Traditionshaus wurde vor acht Jahren in der Ohmbachsgasse, die auf die Sandgasse trifft, wiedereröffnet – die beeindruckende Kuppeldecke des großen Hauses konnte dabei glücklicherweise erhalten werden. Neu hingegen sind die heiß begehrten Pärchensitzplätze. Im schnuckeligen Café im Erdgeschoss können Gäste bei einem Gläschen Wein oder einer Tasse Kaffee den gesehenen Film gebührend Revue passieren lassen. Aber nicht nur die Aschaffenburger wissen längst, was sie an ihrem Casino haben: Vom deutschen Filmförderfond erhielt das Lichtspielhaus den Spitzenpreis als bestes Kino Bayerns. Laut Begründung präsentiert das Casino ein anspruchsvolles Filmangebot abseits des Mainstreams und dient als wichtiger kultureller Treffpunkt und Freizeitstätte. Da kann man aber wirklich nichts mehr hinzufügen …
Tradition wurde auch im gegenüberliegenden Gebäude mit der Hausnummer 42 groß geschrieben: Seit 1874 befand sich dort Aschaffenburgs erste, von Schneider Johann Desch gegründete, Kleiderfabrik.
… und für Kneipenhopper!
Natürlich darf in einer Sandgasse eine Sandbar nicht fehlen: Sandkuchen mag es hier ab und an auch geben, schmackhaft ist es sowieso immer. Die Wohlfühl-Bar eignet sich zum Frühstück wie auch zum lockeren Plausch nach der Arbeit perfekt. Fans des gepflegten Kneipenhoppings müssen in dieser Aschaffenburger Straße allerdings trinkfest sein – schließlich offerieren auch Gecko und Domus Feinstes für den Gaumen.
Falls es sich dann auch noch um einen Sommerabend handelt, so wird man am Ende der Sandgasse einer Menschentraube entgegenlaufen, die sich vor einer Eckbar verlustiert: Innen findet man nicht nur ein Stück Kuba – nur hier zeigen Fidel Castro, Che Guevara und Ernest Hemingway, welche musikalischen und kulinarischen Schätze ihr Land zu bieten hat. Vis-à-vis der Q(ualitäts)-Bar befindet sich ein ganz besonderer Ort: An keinem anderen Fleckchen Erde lagen Himmel und Hölle wohl so nahe zusammen wie hier. Während an der Stelle einer ehemaligen Wallfahrtskapelle der Neubau der Sandkirche im Oktober 1757 eingeweiht wurde, befanden sich just hinter dem Gotteshaus in der Betgasse 3 bis 1970 die Justizvollzugsanstalt und das Untersuchungsgefängnis von Aschaffenburg. Wer also „hinner die Sandkersch“ kam, hatte vorerst nichts mehr zu lachen. So auch viele Gegner des nationalsozialistischen Regimes, die dort festgehalten wurden, bevor sie ihren letzten Weg in Zuchthäuser oder Konzentrationslager antreten mussten. Eine an der Rückseite der Sandkirche befestigte Bronzetafel erinnert heute an die Antifaschisten und Opfer des Nazi-Terrors.