Vor gut drei Wochen brachte ich meine Tochter nach Zürich. Sie besuchte dort ihre Patentante für mehrere Tage. Wir fuhren gemeinsam hin, ich blieb eine Nacht und dann überließ ich sie ihrem Schicksal. Oder die Patentante dem ihren, je nach Blickrichtung. Ich werde nicht müde zu betonen, dass ich mit meiner Tochter gerne reise. Wir machen das – wie so vieles leider – viel zu selten. Aber das ist ein anderes Thema. Ich mag lange Fahrten mit ihr. Wir hatten Hörspiele dabei – jetzt endlich drei Fragezeichen – machten ordentlich Pause, sie trank Sprite und ich Cappuccino von McDonalds. Das sind ganz einfache, aber wunderbare Momente. Wir stellten fest, dass wir beide Peter Shaw am allermeisten mögen und bis zur Grenze und kurz hinterher spielte sie, sie wäre eine junge Französin und ich sei ihr Chauffeur. Oder „Chüfför“, wie sie in gespieltem Französisch immer ganz herrlich schauspielerte. Meine Tochter hat viele Talente. Ich hoffe, sie hat in ihrem Leben genug Mut und Zutrauen, diese auch außerhalb des Autos zu zeigen. Ach ja, ich verschüttete Cappuccino auf mein Shirt, ihre Sprite explodierte nach sinnfreiem Schütteln auf dem Beifahrersitz. Es ist immer was los. Mit neuem Outfit kamen wir an.
Wir gingen am Nachmittag in die Innenstadt von Zürich. Es war ein wunderbarer Tag und Zürich ist – abgesehen von der Tatsache vielleicht, dass eine Bratwurst doppelt so teuer wie in Frankfurt ist – eine ganz prächtige und lebenswerte Stadt. Wer noch nicht dort war, dem sei gesagt, pack ein paar Moneten zur Seite und mach einmal einen Ausflug an den Zürichsee. Wir schlenderten mal hier hin, mal da hin, die Patentante lotste uns an die schönsten Orte, wir tranken Rivella-Limonade an der Bude und schließlich landeten wir an der Limmat. Dem Fluss durch die Stadt, der allen zum Baden offen steht. Um uns herum junge Menschen. Mit ihren Rädern unterwegs, voller Spaß und Freude und mit Schwimmreifen über den Schultern. Eine Stimmung wie in einem Sonntagabendspielfilm. Oder wie in den 50ern, als es ausschließlich aufwärts zu gehen schien. Ein einziger Werbeblock für diese Stadt. Ich war im Flow. Dann sah ich den sehnsuchtsvollen Blick meiner Tochter. Wie sie mit ihren Zöpfen und in ihrem kurzen Overall auf der Brücke stand und sich ihr Blick in all diesem bunten Treiben verlor. Und es waren nicht die Jungs, die sie so faszinierten. Es waren die Mädchen und die jungen Frauen.
Mit ihren Sommerkleidern, Trägershirts, ihrer ausgelassenen Stimmung und ihrer Freiheit, gerade das zu tun, wonach ihnen der Sinn stand. Dieses Gefühl, dass – da kann mir jeder erzählen was er will – nur in einer bestimmten Lebensphase mit dieser Kraft aus allen Poren strahlt. Da wurde mir bewusst, dass meine Tochter in diesem Augenblick nur eines sein wollte. Mindestens 17 Jahre alt und eine von ihnen. Und schlagartig wurde mir wieder einmal mehr klar, dass dies zu den Verrücktheiten des Großwerdens gehört. Dass es die meisten kaum erwarten können, endlich älter zu werden. Diese vermaledeiten Jahre überspringen, nur um endlich im Sommerkleid auf dem Rad durch die Stadt brettern, mit Freundinnen an einem Fluss abhängen und – in ihrem Kopf – dabei so viel Sprite trinken können bis der Magen bitzelt. Das ist die Vision. Und dass irgendwann der Punkt kommt, an dem der eigene Zustand just in diesem Augenblick zu nerven beginnt. Weil man dies und das eben noch nicht tun und lassen kann. Dass daneben dieser – plötzlich ganz alte – Vater steht und vielleicht noch peinlich nachfragt, warum man gerade so schaut. Oder einen noch in den Arm nimmt, weil er Lust hat zu drücken oder so laut spricht, dass es unangenehm wird. Ich hatte Hoffnung, dass es noch ein wenig dauert, aber bei meiner Tochter beginnt es jetzt bereits. Befürchte ich.
Denn ich will gerade jetzt, dass sie noch nicht so schnell alt wird. Dass sie noch zu uns ins Bett zum Kuscheln kommt, dass sie noch glaubt, ich sei der coolste Hecht der Stadt, dass sie weiterhin noch Fantasiespiele im Garten veranstaltet, bei denen Bruno strengen Regieanweisungen Folge leisten muss. Ich will ihr zurufen „Hey Hanni, hör auf zu schmachten. Die beste Zeit ist immer gerade jetzt. Egal ob acht oder 17. Freu dich, dass das alles noch kommt. Und glaub’ mir, auch mit 17 ist nicht alles sonnig, was dann gerade so scheint. Liebeskummer, doofe Jungs, blöde Mädchen. Schulabschluss. Was will ich machen, studieren oder doch in der Kneipe jobben?“. Es hilft alles nichts. Sie ist acht, wäre aber schon gerne 17. Sie sagt es nicht, aber ich spüre es.
Bruno und ich hören: The Whitest Boy Alive „Dreams“ (Asound/Bubbles)