Unser Nachbar ist angefressen. Um nicht sogar zu sagen ziemlich sauer. Die Kinder haben ihm jetzt mehrfach in die Rabatten geschossen, das Efeu im Vorgarten plattgetreten und die frisch eingepflanzten Blumen mit gezielten Bällen regelmäßig geköpft. Außerdem wurde ihm noch als er das Ballyhoo einmal laut anmahnte „Spießer“ nachgerufen. Sagt er. Halblaut. Also er wurde halblaut so genannt. Er bringt es dagegen sehr verständlich zum Ausdruck. Ich glaube von meinen Kindern war das zumindest niemand. It’s Corona-Time. Erste Lockerungen sind durch. Und alle Nachbarskinder sind im Wechsel auf dem Reihenhaus-Garagen-Hof und schießen aus allen Lagen, bauen Hindernisse und Autorennstrecken! „Who let the Dogs out?“ Ein großer Spaß für Jung. Leider nur zum Teil für Alt.
Es ist wie in der Allianz-Werbung aus den 80ern. Manche Leser höheren Semesters mögen sich vielleicht noch erinnern. Kinder treiben Unfug, Nachbar ist stinkig, Kinder ärgern ihn noch mehr, schießen ihm einen Kirschkern ins Genick und bevor sich alle die Köpfe einschlagen, muss die ganze Schose von der Allianz geregelt werden. Ein festes Bündnis mit dem Glück. Hier bin ich die Allianz. Und versuche es zu regeln. Denn ich kann den Nachbarn irgendwie verstehen. Das wurde mir schlagartig bewusst, als er so unter Dampf vor mir stand und mir erklären wollte, er sei kein Spießer. Das wolle er sich nicht nachsagen lassen. Ihm seien nur Dinge wichtig! Koste ja auch alles Geld. Und Zeit. Und überhaupt.
Mir sind die Dinge nämlich auch was wert. Ich kann Eltern nicht verstehen, die immer auf Summerhill machen. Oder permanent die Kinder für ihren Bockmist, den sie so treiben, entschuldigen. Die wollten das nicht absichtlich und man soll sich doch nicht immer so anstellen. Na klar, wollten sie das nicht absichtlich kaputt schießen. Glaube ich zumindest. Äh. Meistens. Aber es ist ihnen auch relativ wurscht, um nicht sogar zu sagen, vollkommen egal, wenn die 40-Euro-Hortensien plötzlich aussehen wie geknickte Jammerlappen oder der Teller wie eine Frisbee-Scheibe vom Tisch fliegt.
Da kann doch niemand permanent ernsthaft „Schwamm drüber“ tönen. Weil er oder sie am Ende Angst hat, die Kinder könnten bei so viel Gegenwehr einen frühzeitigen Willensverlust erleiden. Oder keine Personality entwickeln. So wird das nix. Kinder dürfen in meiner Welt gerne schreien, lärmen und von mir aus auch heimlich nachts iPad glotzen. Aber bei Zerstörung muss doch einer mal „Halt, Stop rufen.“ Der Nachbar hat in diesem Fall mein vollstes Verständnis. Es gibt schlichtweg einfach ein paar Regeln. Und Personality entwickelt man am Besten im Widerstand. Und nicht, wenn Eltern so gar keine Schranke setzen. Ich bin nicht der beste Freund meiner Kinder. Comprende! Vielleicht machen sie es sogar absichtlich, weil sie endlich mal eine klare Kante von den Eltern hören wollen. Auch eine Möglichkeit. „It’s a dirty Job, but someone’s got to do it.“
Manchmal – vor allem wenn mir mal ganz besonders laut und eindrucksvoll die Hutschnur gerissen ist – nehme ich meine Tochter an der Hand und beiseite. Dann versuche ich den ganz großen Zusammenhang zu erklären. „Ihr macht das, weil ihr Kinder seid. Ihr müsst das machen, weil ihr Kinder seid! Aber wir Erwachsene haben auch einen Part bei der Kiste, wir müssen uns darüber aufregen. Es ist unser Job, dass wir euch den Marsch blasen und euch etwas beibringen. Das ist eine Art Naturgesetz. Nirgendwo festgeschriebene Spielregeln. Denn sonst geht es hier im Land bald nur noch drunter und drüber wie auf einer zweitklassigen Schaumparty in einer Dorfdisco. Ich liebe Dich. Und gerade deshalb!“ That’s the Way, aha, aha, I like it.“ Noch ein Songtext. Diesmal passt ja fast alles.
Früher, als ich selbst noch ein Kind war, trafen wir uns nach Schulschluss immer bei uns im Hof. Es war Primetime im Restaurant meines Vaters, alle Parkplätze waren voll mit Daimler, BMW und anderen hochpreisigen Karossen. Das hielt uns allerdings nicht vom Kicken ab. Denn wenn wir schon mal dabei sind: „Nothings gonna stop us now!“ Wir schossen, was die dünnen Beine hergaben. Auf die Garagen und die Autos, donnerten Lampengläser kaputt und von nichts und niemandem ließen wir uns stoppen. Die Gäste beschwerten sich. Scheißegal. Die dritte Lampe in zwei Wochen ging zu Bruch. Was soll der Geiz! Mein Vater soll mal nicht so ein Spießer sein. Lieber Himmel. Manche Dinge ändern sich nie. Ich bin, was das betrifft, mittlerweile spießiger als mein Vater jemals was. Befürchte ich. „Herr Nachbar, Sie haben völlig recht“.
Bruno und ich hören: Surrogat „Rock“ (Motor)