Mensch Kalle. Vor noch nicht mal anderthalb Jahren kamst du in unser Leben. Auf großen Wunsch von Bruno. Ich dachte, du bleibst für länger bei uns. Vielleicht sogar für fast immer. Wir hatten nie Zeit, uns richtig kennen zu lernen und ich wäre sehr gespannt gewesen, was du sonst noch so drauf hast und kannst. Außer selbstständig ins Töpfchen pinkeln. Jetzt hängst du da. Ganz verloren auf dem Schuhschrank kauerst du. Der Kopf nur noch gehalten von ein paar dünnen Plastikröhrchen. Herrje. Tragisch. Fast schon jämmerlich. So ein Ende will man für niemanden. Traurig macht mich das. Zwei, drei Wochen lagerten wir dich noch in dem kleinen Puppenbett. Direkt neben Brunos Schlafstätte. Wir taten so als ob. Hatten Hoffnung.
Wir machten uns einfach vor, als wärst du irgendwie ganz heile. So ein bisschen wie bei der Filmfigur „Oslo“ aus der Serie „Haus des Geldes“. Aber ähnlich wie die Gang bei Oslo erkannte, dass es ein Trugschluss war, mussten auch wir heute einsehen, dass das alles keinen Wert mehr hat. Hand aufs Herz. Und wir einen Schlussstrich ziehen müssen. Wohl oder übel. Wir können nichts mehr ausrichten. Es ist irreparabel. Ich glaube, es ist bereits schon kurz nach deiner Ankunft am Heiligabend 2018 passiert. Zumindest der erste Knacks, der Ursprung des ganzen Dramas. Ich befürchte, es war Brunos Kraft. Seine stellenweise sehr unkontrollierte Energie und seine Vehemenz. Ich bin der festen Überzeugung. Wir hätten ihn vielleicht stoppen müssen. Von der ersten Minute an. Entschuldige, Kalle. Du hättest jemand Fürsorglicheren verdient gehabt. Meine Tochter Hanni zum Beispiel. Die ist schon in Sorge, wenn ein Arm ihrer Puppe minimal in einem anderen Winkel vom Körper absteht, als an den 124 Tagen vorher.
Sie hätte dich ordentlich gewaschen, gepflegt und mit dir gespielt. Und nicht wie bei einem Wrestling-Contest einmal durch den Fleischwolf gedreht. Er meinte es nicht so. Also Bruno, mein Sohn, meine ich. Er ist ein ganz feiner Kerl. Er hängt schlichtweg nicht ganz so an Dingen. Das kann durchaus auch einmal eine Stärke sein. „Kaputt? Entiuldigung! Macht nix. Kann doch jedem ’mal passieren. Oder?“ Der Standardspruch nach jeder Zerstörung! Nur du bist eben hier der Leidtragende. Ich war von Anfang an skeptisch. Hatte Sorge, ob das gut geht mit euch Zwei. Ich kenne ihn zu gut. Ich sehe jeden Tag die Schneise der Verwüstung, die er durch unser Haus zieht. Immer noch. Ich weiß, zu was er imstande ist. Es wurde mit den Jahren und seit #27 Kaputt leider nur geringfügig besser. Ich weiß partout nicht, wie er das jedes Mal hinbekommt. Erst gestern Mittag trat er aus lauter Ignoranz auf eine Feuerwehrmann-Sam-Gitarre. Sie war noch nicht mal 24 Stunden in seinem Besitz. Er freut sich über jede noch so kleine Sache immer wie ein Schneekönig, ist es dann kaputt, juckt es ihn null die Bohne. Die Schäden laufen mittlerweile im dreistelligen Bereich. Wenn er 18 wird, fährt er bestimmt in der ersten Woche das Familienauto zu Schrott. Ich spüre es. Ich hab da so ein ganz mieses Gefühl.
Aber für all das kannst du am Allerwenigsten, lieber Kalle. Nun warst du bereits auf dem Weg in die Mülltonne. Bis Hanni dich heute Mittag entdeckte, diesen Text las und vehement einschritt. Jetzt versuchen wir es doch nochmal. Doppelseitiges Klebeband. Es war ihre Idee. Drei von uns sind weiterhin ein wenig niedergeschlagen und ratlos. Nur Bruno trägt es mit einer gewissen Nonchalance und mit viel Gelassenheit. Wenigstens das. Wie gesagt: Er hängt nicht so an Dingen. Der Firma Zapf mit ihrer Linie „Baby born“ will ich aber noch ins Produktionsbuch schreiben: Bitte machen sie ihre Puppen an den neuralgischen Punkten in Zukunft etwas stabiler und robuster. So an den Gliedmaßen und Übergang Körper-Hals-Kopf vor allem. Auch Jungs wollen manchmal Puppen, aber zumindest in meinem Fall, herrschten völlig andere Umgangsformen.
Bruno und ich hören: Quicksand „Manic Compression“ (Island Records)