Cap Vatertag 75
© Ralph Rußmann
Heute in der Früh. Folgende Debatte. Vor dem ersten Kaffee. Am Samstag. Ich war noch nicht einmal beim Bäcker. „Papa?“. „Ja, Hanni. Was gibt es?“, „Können wir was schauen?“. „Nein, Hanni. Ihr habt noch nicht mal gefrühstückt. Wie kommt ihr denn auf das schmale Brett, dass ihr dann schon irgendeine Serie glotzen könnt?“ Es wird ja immer doller. Denk ich noch so, aber nur für mich. Da brummte schon der Motor meines Gegenübers. Von Null auf Hundert. Ohne Zwischenstopp. „Das ist so unfair. Du darfst den ganzen Tag machen, was Du willst. Und wir dürfen gar nichts.“ Mein neues Lieblingswort auf der Black List: Unfair. Mal wieder. Wie fast alles, was wir so an Regeln aufstellen. Eine reine Schikane, um unsere Tochter zu zermürben. Sie und ihren Bruder nach Strich und Faden vorzuführen.
Ich will das Format hier einmal nutzen und zwei Sachen zum Thema machen. Erstens: Diese permanente Fragerei nach Glotzerei geht mir sowas von auf den Senkel. Und zweitens: Das war der schlechteste Witz des Tages. Denn seit über siebeneinhalb Jahren mache ich nur in ganz extremen Ausnahmefällen noch das, was ich wirklich will. So. Das ist nämlich mal hochgradig unfair. Unfair 2.0. The next Generation of Unfairness. Juckt außer mir und meiner Frau in diesen vier Wänden nur niemanden. Zu beiden Themen hab ich eine ganze Menge zu schreiben. Würde vielleicht sogar auf einen Zweiteiler rauslaufen, eine Art Doppel-LP. Aber wir wollen mal nicht übertreiben. Also. Zum freien Willen ist mehrfach alles gesagt. Den habe ich abgegeben. Am Ausgang vom Kreissaal. 2012, Bürgerhospital, Frankfurt am Main. Ab und an zuckt er noch ein bisschen, der freie Wille. Das bedeutet, er ist nicht ganz tot. Und ich hoffe, er hält die nächsten 15 Jahre noch durch. Wo immer er auch sich versteckt hat. Bis dahin lebe ich mit dem Verlust und der Hoffnung.
Doch das Thema Glotzen nervt mich. Kolossal. Und das von Tag zu Tag mehr. Sie können immer glotzen. Da schenkt keiner der beiden dem oder der anderen was. Am Morgen, am Mittag, am Abend. Paw Patrol, Peppa Wutz, Lego-Friends, Spirit und die nimmermüden Bibi & Tina. Hüh, Sabrina! Auf geht’s, Amadeus! Und es ist immer, wenn wir die Sache beenden - unfair. Natürlich. Wir spielen mit offenen Karten. Versprechen ihnen nichts, was wir nicht halten. Kündigen die Zeit zu Beginn an. „20 Minuten. Dann ist Schluss.“ Wir weisen auf das nahende Ende hin: „In 5 Minuten ist Feierabend“. Jedes Mal. Doch ist der Moment des Abschlusses dann da, bricht ihre Welt zusammen. Der Augenblick des Ausschaltens drückt zeitgleich den roten Knopf. Mit den klassischen Erscheinungen eines kalten Entzugs. Zumindest wie ich ihn noch aus Funk und Fernsehen kenne.
Schreie, Schmerzen, unkontrollierte Wut, völlig ausufernde Angebote als Gegenleistung. „Wir schauen zwei Wochen überhaupt nichts mehr, wenn wir diese Folge noch fertig sehen dürfen“ und solche Breitseiten. Völlig sinnfreie Selbstaufgabe. Das ist kein Scherz. Das gleiche Verhaltensmuster zeigen, glaube ich, auch Junkies. Bruno wirft sich auf der Couch hin und her, als habe ich ihm geradewegs ein Ticket in die Mongolei zu den strengsten Eltern der Welt unter die Nase gehalten. Ach was red‘ ich. Das würde ihn nur halb so intensiv berühren, wie nach nur einer Folge „Paw Patrol“ aussteigen zu müssen. Und immer ist es nur noch eine Minute. „Eine Minute noch, bitte, nur noch eine Minute, dann ist die Folge fertig“. Egal wann wir den Schlussgong schwingen, immer nur noch angeblich eine Minute bis zum Abspann. Völlig egal was das Display anzeigt. Das scheint ein Defekt beim jeweiligen Streamingdienst zu sein.
Ich schiebe die Schuld nicht einfach ab. Prime, Netflix, Mediathek, wir haben selbst die Tür zur Hölle gezimmert, ins Haus geholt und den Umgang mit dem Schlüssel unseren Kindern gezeigt. Oder sie haben es sich selbst beigebracht. Kinder lernen in manchen Zusammenhängen verflixt schnell und selbstständig. Es ist aber auch sehr verlockend, der alte Trick des Teufels.15 Minuten Klappe-halten und Zeit für Gespräche unter Erwachsenen. Jetzt müssen wir zusehen, wie wir die Büchse der Pandora wieder geschlossen bekommen. Alles hat seinen Preis. Mist!
Kürzlich meinte ein Freund, er wünsche sich den Sendeschluss zurück. Das wären noch Zeiten gewesen. Das stimmt. Selten sehnte ich mich so nach einem starken Staat und einem soliden Testbild. Stattdessen müssen wir jetzt den Sendeschluss mit Bildschirmzeiten selbst fingieren. Und die Verantwortung dafür übernehmen. Niemand sonst. Individualsierung, Digitalisierung, nichts nimmt einem mehr die Regierung oder seine öffentlichen Einrichtungen ab. Alles müssen wir Eltern im Blick behalten. Ich bin schlag kaputt. Das einzige, was mich noch entspannt ist eine Runde Netflix glotzen. Heute ab 21 Uhr. Wenn die Kinder schlafen.
Bruno und ich hören: The Gaslight Anthem „The 59’ Sound“ (SideOneDummy)