© Ralph Rußmann
Neverending Vatertag #64: Geschwisterkinder
Ich muss mal eine Lanze brechen. Und zwar für die älteren Geschwisterkinder dieser Welt. Ich habe nämlich immer häufiger das Gefühl, dass die in der Regel eine blitzsaubere Arschkarte gezogen haben. Eben noch Superstar, jetzt plötzlich Depp vom Dienst. Ich erlebe es ja hautnah mit. Tag für Tag. Und alleine, dass ich es hier endlich aufschreibe, lässt für meine Tochter die Hoffnung auf Besserung wachsen. Irgendwann. Selbsterkenntnis und so. Der erste Weg zur Besserung. Sie wissen schon. Hanni war die ungekrönte Königin, sie erntete Lacher und verzücktes Lächeln, wo sie nur hinkam. Ihre Sprüche, Witze. Alles ein blitzsauberer Knüller. Jede und jeder mochte sie und ihre Gags. Alle lagen ihr zu Füßen. Ganz lange. Bis Bruno kam. Auf einen Schlag war der Scheinwerfer verstellt. All Eyes on Bruno. Spot aus, Spot an. Bitte reiß dich doch jetzt einfach mal zusammen, Hanni.
Bruno ist ein unfassbarer Charmeur. Und ein rechter Wüterich. Letzteres meist unverhofft. Aber böse ist ihm niemand lange. Er petzt größeren Kindern in die Brust, sagt „blöder, blöder Papa“ und haut die Einrichtung kurz und klein. Dann steht er vor uns mit seinem runden Kopf und alle lieben ihn. So war es, so ist es und so wird es – befürchte ich – immer bleiben. Hanni dagegen muss jetzt mal ran. In unserer Wahrnehmung. „Pass mal auf ihn auf“, „Hol ihn mal rein“, „Warum machst du ihm denn diesen Quatsch vor?“, „Spinnst du, ihn die Treppe hochzutragen? Weißt du, was da alles passieren kann?“, „Lass ihn doch mal in Ruhe, er ist doch noch so klein“. Wir schrecken auch vor den drastischsten Szenerien nicht zurück. „Dabei kann er sich das Genick brechen. Dann ist er tot. Kapierst du das denn nicht“ Lieber Himmel, manchmal erschrecke ich selbst, was wir da alles auffahren.
Ab und an fällt mir wieder ein: Verflixt, sie ist ja auch noch nicht mal Sieben. Eben war sie doch noch selbst das zerbrechlichste und beschützenwerteste Ding, das wir kannten. Die immerwährende Sorge meiner Frau war, Hanni könnte im überhitzten Auto einen Hitzschlag bekommen. Oder sich eine massive Verkühlung durch die Klimaanlage einfangen. Kaum saß Prinz Bruno bei 40 Grad im Auto und meine Tochter klagte über Hitze, bekam sie nur noch ein „Dann zieh halt einfach mal deine Strickjacke aus“ als Antwort. Kurz, knapp, barsch. Da war sie gerade vier. Und die Einordnung ihrer Nöte war im direkten Vergleich geklärt. Mein Schlüsselerlebnis zu diesem Thema. Bis heute. Aber das flimmert nur kurz im Hirnkasten und schon bin auch ich im alten Modus. Ich werfe hier keine Flaschen im Glashaus.
Die Verantwortung und das Zurückstehen bleiben dem älteren Geschwisterkind ein Leben lang. Da verwette ich meine Gummistiefel. Ich kenne nämlich genug Bespiele aus nah und fern. Die älteren Geschwister müssen nachgeben, helfen oder „einfach mal nachdenken. Ist doch nicht so schwer“. Die jüngeren bleiben für fast immer Kind. Einfach mit weniger Verantwortung. Gottgegeben. Kein Otto fragt, warum das so ist. Die Älteren rennen sich für die Jüngeren den Kopf ein, holen sie aus dem größten Schlamassel und bekommen einen warmen Händedruck. Als Dankeschön. Der ältere Sohn übernimmt die Metzgerei und die jüngeren Geschwister machen Karriere im Web-Design. Oder so ähnlich. Ich scheiße hier nicht klug, ich bin ja selbst mittendrin und mache es als zentraler Akteur nicht markant besser.
Irgendwer erklärte mir mal, die Ankunft des Geschwisterkindes wäre für das ältere Kind in etwas so, als käme der Ehepartner urplötzlich mit einer neuen Liebschaft nach Hause. Und sie oder er würden dir sagen „Schau mal, das ist mein neuer Freund, wahlweise neue Freundin, die liebe ich genauso wie dich. Und übrigens: Ab sofort wohnt sie auch bei uns. Und erst einmal in deinem Zimmer. Also sei bitte freundlich. Und räum deine Regale frei.“ Bang, Boom, Bang. Sucker Punch galore. Ja, was willst du denn da anderes bekommen, als die mächtigste Krawatte der Welt. Vor dem Hintergrund dieses Beispiel, verwundert es mich, wie glimpflich so Geschwisterbeziehungen am Ende doch noch ausgehen. Ohne Erdrosselungen, Schnittwunden oder zerstörtes Spielzeug.
Ich als Einzelkind kannte dieses Drama nicht. Einzelkind sein ist nicht immer besonders schön. Es ist in weiten Teilen eigentlich behämmert. Du hast ja nie einen Partner oder eine Partnerin, mit dem du dich verschwestern oder verbrüdern kannst. Merkt jemand den Gendersprech? Gut so. Drehen die Eltern durch, dann kannst du im Geschwister-Modus zumindest mit jemandem hinter der Tür gemeinsam den Scheibenwischer machen. Erfahrungen austauschen, verschiedene Strategien ausprobieren. Lonesome im Heck auf Urlaubsfahrten ist furchtbar. Aber einen kleinen Vorteil hat es doch. Das Einzelkindsein. Du musst nichts teilen und bist vor allem nicht der Trottel vom Dienst. Du lernst dich alleine durch das Aufwachsen durchzukämpfen. Harte Schule. Aber vielleicht manchmal immer noch besser, als für alles herhalten zu müssen. Und bevor jemand meint, ich könne hier ja deshalb überhaupt nicht mitreden, weil Einzelkind und so, der ist gehörig und schief gewickelt. Das ist genau das richtige Maß an Abstand für diese Erkenntnisse. Mittendrin im Thema und nicht Direkt-Betroffen. Besser geht es kaum.
Manchmal glaube ich, wir Eltern sind das Problem. Landauf, landab. Am besten hängen wir uns gar nicht mehr rein, es ruckelt sich schon ins Lot. Hanni liebt Bruno. Bruno liebt Hanni. Sie machen das beide in mehr Situationen gut als schlecht. Kopf und Arsch. Aber ein bisschen härter muss ich ihn vielleicht doch rannehmen. Zur Sicherheit. „Bruno, hilf deiner Schwester endlich. Du bist jetzt auch schon drei Jahre alt!“
Bruno und ich hören ein Best-of aus Def Leppards „Pyromania“ und „Hysteria“ (beide Mercury)