© Ralph Rußmann
Neverending Vatertag_Neue Themen
So ganz langsam mache ich mir doch Gedanken. „Papa?“, „ Ja Hanni?“, „Hast Du schon mal Shisha geraucht?“, „Nein, das habe ich nicht“, „Manuel aus der dritten Klasse will unbedingt mal Shisha rauchen“. Aha. Ich wollte in der Grundschule noch gar nichts rauchen. Maximal den Kaugummiautomat in der Schulstraße knacken oder beim Bäcker Brückner 28 Brausestäbchen lutschen. „Papa?“ „Ja, Hanni?“, „Weißt Du, was ich einmal werden will?“, „Nein, was denn?“, „Entweder Top-Model oder Top-Model-Designerin“. Ich wusste nicht, dass man zumindest Letzteres werden kann. „Papa?“, „Ja Hanni?“, „Was genau ist Snapchat?“, „Hanni, ich kann es Dir leider nicht richtig erklären.“ Ich kann es wirklich nicht erklären, ich war, geschweige denn bin ja noch nicht mal bei Facebook. „Papa?“, „Ja, Hanni?“, „Weißt Du, was der eine Junge in meiner Klasse immer sagt?“, „Nein, Hanni, weiß ich nicht.“, „Er sagt immer ‚What the fuck, ey‘“. Was zur Hölle ist denn hier los? Erste Klasse, alle miteinander gerade einmal zwischen sechseinhalb und siebeneinhalb Jahre alt. Da sag ich doch mal: What the fuck, ey! Es ist nicht so, dass wir in den Jahren zuvor zuhause andauernd über Kinderarmut in Indien oder Rassenkonflikte in Zeiten von Donald Trump diskutiert haben, auch wollte meine Tochter im Frühjahr nicht Ärztin oder Entwicklungshelferin werden. Aber sie war an vielen Dingen sehr interessiert, konzentriert und arbeitete sich mit viel Spaß und Freude durch ganz viele interessante Fragestellungen. Jetzt halte ich fest: Seit meine Tochter in der Grundschule ist, haben neue Themen bei ihr und uns einen Schwerpunkt bekommen.
In der Grundschulklasse meiner Tochter trifft sich die wilde Mischung, die hier im Frankfurter Nordwesten zuhause ist. Ich mag das grundsätzlich. Ein blitzsauberes Durcheinander. Die bunte Tüte. Eben was diese Stadt so auszeichnet. Bildungsnah, bildungsfern und irgendwo dazwischen. Aus Deutschland, Polen, Marokko, Türkei, Ukraine, was weiß ich. Da geht es zu wie im Kindersong: Hallo, Salut, Jambo Hi, Salam Alaikum, Ciao, Goodbye. Kalispera, Merhaba, Doswidanja, Au Revoirs. Alle lernen zusammen, keine Elite-Kacke. Die einen können schon lesen, die anderen noch nicht mal Schuhe binden. Die Realität eben. Und bitteschön: Soziale Durchmischung, sonst funktioniert das Miteinander ja gar nicht mehr, wenn wir beginnen, uns abzugrenzen. Eine ganz bewusste Entscheidung also. Aber mittlerweile kommt meine Tochter nur noch mit für uns in weiten Teilen fremden Inhalten nach Hause. Und so richtig viel Neues hat sie leider auch noch nicht gelernt. Ok. Sehen wir mal von Snapchat und neuen Berufsbildern ab. Ich will hier niemandem die Schuld in die Schlappen schieben, aber dieser rapide Verfall setzte zeitgleich mit dem Beginn der Grundschulzeit ein. Original. Möglicherweise ist es ja auch nur Zufall. Oder eine kurze Episode. Zum Einstieg. Alles neu, deshalb die Verwirrung. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Mir ist sehr bewusst, dass das Lehrer-Dasein 2019 kein leichtes und vor allem völlig hemmungslos überfrachtet ist. Dumme, mittelschlaue, neunmalkluge Schülerinnen und Schüler, mittendrin drei Verhaltensauffällige, ein Hochbegabter und vier Flüchtlingskinder, die keinen Brocken Deutsch sprechen. Alle sollen und wollen differenziert bedient werden, wie das klappen soll, interessiert den Rest der Neunmalklugen einen feuchten Flunsch. Verlassen die Letzten aus dem so called Mittelstand den Kahn, kippt die Kiste endgültig ins Bodenlose. Ich bin mal so selbstbewusst und zähle uns zu den aufrechten Stützen. Aber in den letzten Tagen frage ich mich ganz im Stillen: Muss ausgerechnet unsere Tochter dieses Durcheinander in unserem Schulsystem retten. Schließlich muss sie ja auch dieses Tohuwabohu jeden Tag aushalten. Nicht ich, meine Frau oder andere Eltern. Wir Erwachsenen bekommen kein zeitgemäßes Schulsystem auf die Kette, aber die Kinder sollen es richten. Auf diesen Gedanken brachte mich kürzlich eine schlaue Frau. Es war diesmal nicht meine, aber eine, die durchaus systemkritisch durch die Welt marschiert. Jetzt denke ich mehrfach in der Woche darüber nach. Lieber Himmel, sie ist doch erst sechseinhalb. Welche Themen hat sie denn in der vierten Klasse. Tätowierungen? Piercings? Koma-Saufen?
Wir saßen kürzlich mit Freunden beisammen und erzählten ein paar Schoten der ersten Schul-monate. Da traten plötzlich der am Tisch sitzenden Mutter fast die Tränen oder das Entsetzen in die Augen. Ich weiß es nicht mehr genau. Die Einschulung steht dort erst im Sommer an und dem Sohn geht es im Kindergarten gegenwärtig ausgesprochen gut. Sie wollte das alles nicht hören und rief das Ende der Kindheit aus. Recht hat sie, aber … Moment mal … „Ja, Hanni, was gibt es?“, „Papa. Estefania aus dem Hort hat zu Weihnachten ein Tablet bekommen. Warum habe ich noch kein Tablet?“, „Weil in der Grundschule noch niemand ein Tablet braucht!“, „Aber es ist kein richtiges Tablet, es ist ein Kinder-Tablet.“ … Ach, ach. Warum hätte sie nicht einfach noch ein oder zwei Jahre im Kindergarten bleiben können. Basteln, Malen, Natur-AG. Ich könnte gerade auch ein klein wenig heulen. What the fuck, ey!
Bruno und ich hören: Nada Surf „Let Go“ (Liberation Music)