© Ralph Rußmann
Neverending Vatertag 58: Muede
Ab und an bin ich schlecht gelaunt, manchmal sehr fröhlich, stellenweise sauer, immer wieder mal witzig. Aber eine Sache bin ich andauernd: müde. Ich bin seit April 2016 müde. Vorher war ich in meinem Leben auch immer mal wieder müde, auch zu Zeiten von Hannis ersten Jahren. Aber seit Bruno auf der Welt ist, bin ich ausschließlich müde. Sehr, sehr müde. Ich könnte Pokale im Müdesein gewinnen. Weltmeister im Müdesein. Das wäre mein Titel. „And the Winner is …“. Ich bin der Lionel Messi der Müdigkeit. Müde am Morgen und müde am Mittag, besonders müde gerne zwischen 14 und 15 Uhr und ganz arg müde gegen acht Uhr am Abend. Seit über 31 Monaten kann ich überall und sofort einschlafen … Chhhh, chhhh, schnarch, schnarch … Oh verflixt, auch gerade beim Schreiben …
Vor kurzem entdeckte ich eine Textpassage vom Sommer 2017, die es nie zu einem Neverending Vatertag geschafft hat. Ich las sie und dann fiel mir der Löffel in die Suppe. Der Text ging nämlich so: "Ich bin sehr oft müde. Vor allem tagsüber. Lege ich mich in die Horizontale, dann schlafe ich sofort ein. Ich kann das mittlerweile permanent. Ich war auf einem Junggesellenabschied und es waren die ersten Nächte ohne Bruno. Auf etwa 80 Prozent der Fotos schlafe ich. Überall. Im Englischen Garten, im Irish Pub, auf dem Kocherlball. Wenn ich schreibe überall, dann meine ich hier auch überall. Auf meinem Nacken werden Bierdeckelhäuser gebaut, mit mir werden Videos gedreht und auch sonst noch allerlei Schindluder getrieben. Nichts davon weckt mich auf und holt mich in den wachen Zustand zurück. Nur zuhause ab 22.30 Uhr, wenn die Kinder im ersten Tiefschlaf sind und die Ruhe sich wie ein wärmender Mantel über unser Haus legt, bekomme ich jeden Abend noch mal einen zweiten Wind, dann will ich nicht mehr ins Bett. Ein Teufelskreis. Hoffentlich komme ich da noch mal raus!"
Vielleicht dachte ich damals, es vergeht wieder. Oder das Thema ist so wichtig auch nicht. Aber es ist immer noch da. Größer denn je. Ich befürchte manchmal, es wird immer dramatischer und gerade deshalb ist es von dringlicher Bedeutung. Langsam aber sicher verstehe ich auch die Komplexität und die Ausweglosigkeit meiner Lage. Denn der zweite Wind um halb Elf hat eine klare Ursache. Lege ich mich um acht Uhr mit meinen Kindern hin, bin ich der Erste, der einschläft. Dann weckt mich meine Frau und ich habe schlechte Laune und urplötzlich neue Energie. Furchtbar. Das ist wie nach einer Übersee-Reise. Eine Art „Eltern-Jetlag“. Mein kompletter Rhythmus ist in der Tonne, dafür bin ich plötzlich wieder fit wie ein Jugendlicher auf Disco-Freizeit. Ran an die Buletten und wo ist das Abenteuer? Diese Stimmung trägt mich in die Nacht und in der Früh schaue ich regelmäßig so zerknittert aus der Wäsche, als sei ein Schlitten quer über mein Gesicht gefahren.
Möglicherweise gibt es einen Weg. Ich dürfte einfach nicht einschlafen. Nur, wenn das mal so einfach wäre. Oder ich müsste um Zehn im Bett erscheinen. Aber liebe Leute, das kann doch nicht Euer ernst sein? Das ist doch kein Leben mehr. Dann kann ich gleich die Turnschuhe abgeben und mich beim Rentnerkaffee melden. Eineinhalb Stunden blieben in der Gesamtschau noch freie Lebenszeit. 90 Minuten! Inklusive Zähneputzen und Bettwurst rollen. Diese Rundfahrt bitte ohne mich. Ein bisschen Spaß muss doch noch sein? Auch ohne Tony Marshall.
Dazu kommt noch eine ganz andere Facette meiner misslichen Lage. Denn das höchste der Gefühle, das mir geblieben ist, sind sechs Stunden Schlaf am Stück. Das passiert aber nur maximal einmal im Monat. Die restlichen Nächte meldet sich irgendwer mitten drin und will irgendwas. In unser Bett, Wasser oder pinkeln. Mittlerweile kann ich schon gar nicht mehr länger schlafen. Sechs Stunden. So bin ich konditioniert. Wie ein russischer Laborhund. Das ist die andere, noch üblere Seite der Medaille. Ich kann zwar überall einschlafen, dafür im Gegenzug nicht mehr ausschlafen. Sechs Stunden sind alles, was geht. Vielleicht sechseinhalb. Wenn es ganz gut läuft. Dann springt der Motor an und ich bin wach. Versteht jemand jetzt das ganze Drama?
Mein Großvater machte früher immer Mittagsschlaf. Daran kann ich mich noch gut erinnern. Von der Volksbank nach Hause zur Oma, Mittagessen und ab auf die Couch. Und wehe irgendein Otto hat ihn gestört. Würden sie mir im Büro eine Pritsche bereitstellen, ich würde sie mit Kusshand nutzen. Ein Königreich für eine Pritsche oder einen donnernden Applaus für eine wiederaufkommende Kultur des Mittagschlafs. 13 Uhr in Deutschland: Jetzt allesamt den Kopf auf den Schreibtisch und Zeit für einen Ratz! Es macht nur niemand und ich traue mich nicht damit anzufangen. Also schütte ich mir drei Tassen Kaffee in den Kopf, radle gegen 18 Uhr ohne Mittagsschlaf nach Hause und die Misere geht in die nächste Runde. Mittagsschlaf. Herrje. Das wäre vielleicht meine Rettung. Oder ein Rezept. Befund „ganz arg müde“ und als Medikament „sehr viel schlafen“.
Bruno und ich hören: Sleater-Kinney „Dig Me Out“ (Kill Rock Stars)