© Ralph Rußmann
Neverending Vatertag #56: Festival
Nachdem Bruno das zweite Mal innerhalb von 15 Minuten sein großes Geschäft in die Windel gesetzt hatte, fühlte ich mich plötzlich ziemlich alt. Wir saßen in Darmstadt hinter Schloss Kranichstein und waren auf einem Festival. Bruno stank wie ein Bock und ich spürte auf einen Schlag die ganzen 45 Jahre in all meinen Gliedern.
Unser erstes gemeinsames Festival als vierköpfige Familie. Darauf eine Limonade. Fair Trade. Versteht sich von selbst. Ein Musikfestival. Mit echten Bands für Erwachsene. Der nächste kleine Schritt in unser altes Leben. Aber es gibt kein altes Leben mehr. Das wurde mir schlagartig bewusst. In diesem Moment vor der randvollen Windel meines Sohnes. Ich habe ein Ticket ohne Rückfahrt gebucht. Das ist nicht Fair Trade, sondern die Realität. Und jetzt saß ich hier inmitten von absolut trendigen und durchaus interessanten Menschen und holte meinen Sohn zum zweiten Mal innerhalb einer Viertelstunde aus der Kacke. Mir tat der Rücken auf der Picknickdecke weh, außerdem bin ich mittlerweile so steif wie ein Brett und ein Mülleimer für die volle und stinkende Windel war auch weit und breit nicht in Sicht.
Es ging mir bislang nicht häufig so und ich glaube, es ging nur mir so. An diesem Samstag in Darmstadt. Noch nicht mal meiner Frau und die fühlt sich manchmal auch alt. Nur eben auf diesem Festival nicht. Um mich herum waren ganz viele Familien, denn das „Golden Leaves“ ist ein ausgesprochen familienfreundliches Festival. Aber sonst wäre ich da auch gar nicht hin. Ich bin ja nicht völlig aus den Hirnschranken geflogen, dass ich mit beiden Kindern auf irgendein "Monsters of Rock" nahe der Grenze zu Polen oder Dänemark gehe. Oder so. Nein, Familien, jung und alt, dick und dünn, groß und klein. Alle, die noch nicht ganz die Hoffnung auf ein Leben neben oder nach dem Elternsein aufgeben haben. Hier waren nur ganz aufgeschlossene Turnschuhträger am Start. Ich mach mir nichts vor. Wir sehen wahrscheinlich nicht viel anders aus. Aber alt fühlte ich mich trotzdem. Ganz plötzlich. Und es ging weiter.
Hanni musste pinkeln. Ich übernahm, weil meine Frau gerade mit Bruno unterwegs war. Gekackt hatte er gerade erst ausgiebig, da kann jetzt ja ein Rundgang gemacht werden. Neben uns in der Schlange stand ein vielleicht Anfang 20-jährigess Mädchen. Wir in der Reihe vor der normalen Toilette, das Mädchen in der Schlange zum Männerpissoir. Weil da weniger anstanden. Hanni fragte mich wie das denn jetzt wieder ginge. Und warum und überhaupt. Ich sah mich bereits im Schnelldurchgang meiner Tochter das ganze Transgenderthema nahebringen. Da fiel mir auf, dass das Mädchen eine Art Trichter in der Trickkiste hatte und ihrer Begleitung erklärte, dass sie damit auch auf ein Männerpissoir gehen könnte. Sie pinkelt einfach auf so eine Art Trichterrampe. Daneben stand ich, Hand in Hand mit Hanni und staunte nicht schlecht. Über einen Trichter ins Männerpissoir pinkeln! Lieber Himmel. Da muss erst mal jemand drauf kommen. Neue Einblicke in die junge Generation. Ich hab sie gerade nicht gebraucht. Die Einblicke. Ich bin kein Teil mehr von ihnen. Auch wenn ich das manchmal glaube. Und wieder fühlte ich mich ziemlich alt.
Später stand auf der Bühne die Künstlerin Dillon. Dillon stammt aus Brasilien, lebt in Köln, ist so Anfang 20 und könnte damit meine Tochter sein. Überhaupt. Gut dreiviertel der Künstler könnten meine Kinder sein. Wenn ich früher damit begonnen hätte. Mit dem Zeugen von Kindern. Lediglich Notwist und William Fitzsimmons hoben den Schnitt. Nur so zur Info. Das war aber mittlerweile auch egal. Dillon bewegt sich irgendwo im Dunstkreis von Björk, tut ziemlich entrückt und sieht nicht schlecht aus. Das hilft nur alles nichts, denn Bruno wollte just in diesem Moment ein Pixie-Buch von Bibi & Tina vorgelesen bekommen. Da sitze ich 30 Meter Luftlinie von der Bühne und lese meinem Sohn die Geschichte von irgendeinem verschwundenen Pony vor. Währenddessen hantierte Dillon im Nebel leicht blasiert am Notebook. Wieder fühlte ich mich weit weg von ihr. Hier Beeps und Klonks, da Bibi und Tina. Auch wenn Anfang Zwanzig das Leben auch anstrengend sein kann. Nur anders. Immer so tun, als sei man hipper und frischer als der Rest ist ja auch kein Zustand. Vielleicht hat Dillon auch mal Bibi& Tina gehört, gelesen und geschaut. Dillon ist die Generation Bibi & Tina. Wahrscheinlich will sie gerade in dieser Lebensphase davon nur nichts mehr von wissen. Hex, Hex!
Hex, Hex! Zum krönenden Ende stand ich noch eine gute Stunde für Falafel an. Für die ganze Familie. Nur um urplötzlich aus dem Off von Hanni wüst angegangen zu werden. Wo ich denn so lange bliebe, Mama würde mich schon überall suchen. Und mal grundsätzlich: Falafel würde eh nicht schmecken. Eine Wortkanonade ohne Punkt und Komma. Vor der ganzen Schlange. Versteht sich von selbst. Großes Gelächter. Danke auch dafür. Was mache ich eigentlich hier? Fragte ich mich. Vielleicht doch Fool for a Lifetime? Den Abend beschloss Faber mit viel Pauken und Trompeten. Wäre Dillon meine Tochter, dann könnte Faber meinen Sohn geben. Der schlief aber derweil auf meinem Arm, während die Posaunen tröteten, als gelte es Darmstadt zu erobern. Das kümmerte ihn jedoch den bekannten feuchten Flunsch. Schnarch, Schnarch statt Hex, Hex! Mit jedem Song wurde Bruno schwerer. Wir beschlossen nach Hause zu fahren. Reichte dann auch.
Das Festival war sehr schön. Wirklich. Jetzt im Rückspiegel. Die Veranstalter haben sich viel Mühe gegeben und für mein Alt-Fühlen konnten sie ja nichts. Wir kommen nächstes Jahr wieder. Fester Plan. Bis dahin akzeptiere ich die Umstände. Ganz sicher. Vielleicht benötigt Bruno dann auch keine Windel mehr. Und ich schau gleich mal, ob ich diesen verdammten Trichter irgendwo finde. Immer über dem Klo oder im Wald die Tochter fürs Pipi-Geschäft hochhalten geht nämlich ganz schön aufs Kreuz.
Bruno und ich hören: Rage Against the Machine „Rage Against the Machine“ (Epic)