© Ralph Rußmann
Ralphs Corner_#18 Malheur
Es war ein normaler Dienstagabend. Gegen Viertel nach Zehn waren meine Frau und ich drauf und dran endlich in den gemütlichen Teil des Abends überzugehen. Die Kinder schliefen, alles Nötige war gespült, das Haus begehbar und die Betten der Kinder zur Feier des Tages auch frisch bezogen. Na also. Geht doch. Wir saßen vielleicht gute 15 Minuten, als Hanni aus ihrem Zimmer lautstark vermeldete: „Mama, Papa, ich habe gekotzt!“ Meine Tochter hat in ihren knapp viereinhalb Lebensjahren noch nie gebrochen. Sie hatte vier bis fünf Mittelohr-, einige Bindehaut und eine Lungenentzündung, natürlich immer mal wieder Husten und Schnupfen, aber dafür im Gegenzug vom lieben Gott auch den Magen einer niedersächsischen Zuchtkuh geschenkt bekommen. Entspannt blieb ich sitzen, meine Frau schaute nach dem Rechten. Gute zehn Sekunden später rief sie mich aufgebracht zu Hilfe. Ich wusste nicht, was es im Kindergarten zu Mittag gab, es musste allerdings etwas mit Huhn gewesen sein. Und Hanni hatte mehr als einen Teller gegessen. Zumindest schien es, als habe jemand einen Fünf-Liter-Topf Hühnerragout mitten in ihr Bett geschüttet. Nichts davon war annähernd verdaut.
Meine Tochter schläft in einem Hochbett. Also einem richtigen, ein-meter-sechzig-hohen, Hochbett. Es ist eine besondere Herausforderung, in dieser Höhe eine Misere dieses Ausmaßes zu beseitigen. Und es gab wenig, was nicht betroffen war. Bezug, Matratze, das Lieblings-Pilzkissen, der kleine Onkel – auch als Kissen, Zudecke, Kopfkissen. Eine Entkernung stand auf dem Plan. Meine Tochter völlig paralysiert dazwischen. Dann auf dem Klo. Alles blieb ruhig. Wir warteten und irgendwann glaubten wir, dass wir es riskieren konnten. Umzug aufs Gästebett. Alles ok Hanni? „Ich glaube ja, nur noch ein bisschen Bauchweh“. Keine zwei Minuten später die nächste Ladung. Wieder durch alle Laken und schneller als die Polizei erlaubt. Bitte aufstehen. Der nächste Wäschewechsel. Komplett. Versteht sich von selbst. Meine Tochter war endgültig aufgelöst und mein Sohn mittlerweile hellwach. So etwas hatten beide noch nie erlebt und bei so viel Tumult auf der oberen Etage wollte er nicht fehlen. Natürlich. Warum auch nicht. Jetzt packten wir Handtücher und alles saugfähige Material noch dazu, das Ausmaß des dritten Schubes konnte auch das nur geringfügig stoppen. Ab sofort rechnete ich mit allem.
Auf dem Flur sah es mittlerweile aus wie in einer Hotel-Wäscherei. Ich kämpfte mich durch Berge an Laken, Zudecken, stieg über die Matratze und begann mit der ersten Ladung Wäsche. Irgendwo muss es ja losgehen. Meine Frau versuchte derweil Bruno zu beruhigen und Hanni saß mit einem Putzeimer vor sich wieder auf der Toilette. Jetzt panisch. Sie kannte so etwas – wie bereits erwähnt – nicht und konnte sich nicht vorstellen, wo die Reise endete. Ich ehrlich gesagt auch nicht. Wir warteten. Bruno war aus Solidarität ebenfalls völlig von der Rolle und mittlerweile schlug die Turmuhr kurz nach Zwei. Hanni stand weiterhin treu neben sich, also parkte ich mich mit der Bettwurst unterm Arm besser mal neben sie. Der zweite Waschmaschinengang vermeldete fröhlich tutend sein Ende, der Rest der Nacht blieb ruhig in Sachen Erbrechen. Danke! Hanni war dennoch schlaflos in Praunheim. Und Bruno stand seiner großen Schwester nur geringfügig nach. Danke auch dafür! In der Früh gab ich ihr einen ordentlichen Krug Wasser. Dehydration vermeiden und so. Das Wasser blieb zwei Minuten im Körper. Ich packte drei pitschnasse Handtücher auf den verbliebenen Wäscheberg. Das kann ja heiter werden. Derweil verlies meine Frau nach geschätzten zwei Stunden Schlaf leichenblass das Haus. Da saß ich nun. Bruno im Arm und Hanni völlig erledigt duselnd vor mir. Doch wenn Du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Vorwärts immer, Rückwärts nimmer. Irgendwann wachte sie auf, trank Tee, aß Zwieback, kein Erbrechen, kein Durchfall. Wir schauten gemeinsam die komplette Staffel Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer der Augsburger Puppenkiste und als sie in gewohnt leicht gereizter Manier fragte „Wann kommt denn endlich der Scheinriese?“ wusste ich: Das Gröbste ist geschafft.
Ich wusch am Tag eins sieben bis acht Ladungen Wäsche, feuerte den Trockner zur Höchstleitung an, versorgte Bruno, besänftigte Hanni, brachte das Haus wieder in seinen normalen Zustand zurück, war fürsorgend wie Mutter Beimer und versprühte Zuversicht. Mir ist bewusst, dass ich mit dieser Erfahrung nicht alleine stehe. Im Gegenteil. Und ich schlage mir auch nur ein ganz klein wenig auf die Schulter. Für viele Mütter und Väter sind das bekannte Situationen der dritten Art. Als ich jedoch am Ende des Tages auf der Couch saß, kamen mir plötzlich zwei Freunde in den Sinn. Beide sind in der freien Wirtschaft tätig, verdienen ordentlich Geld und glauben immer viel Stress zu haben. Beide hätten in dieser Nacht entweder das Haus mit quietschenden Reifen verlassen, sich im Wandschrank versteckt oder die Familie verleumdet. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Da fragte ich mich, wie zur Hölle sind denn die beiden in ihre Position und Funktion gekommen? Bei so wenig Stressresistenz. Wäre ich Vorstandvorsitzender eines Konzerns und müsste Spitzenpositionen besetzen, ich würde alle Kandidaten in einem Assessment diese Aufgabe stellen. Wollen wir doch mal sehen, wer hier die Nerven behält. Beruhigen, Entscheiden, Handeln, Führen, Überblick behalten, Verantwortung übernehmen. Und vor allem nicht abhauen!
Bruno und ich hören: Muff Potter „Von wegen“ und „Heute wird gewonnen, bitte“ (beide Huck’s Plattenkiste)