Ich gab mir nie eine Blöße. Oder agierte mit lediglich vorgetäuschter Leistungsstärke. Zumindest inmitten meiner selbst gesteckten Koordinaten des gepflegten Wettbewerbs. Okay. Manchmal war und bin ich ab und an gedankenlos, spiele kurzzeitig unbewusst mit halber Kraft, weil ich bereits 7:1 führe, werde nachlässig. Aber ganz am Ende, dann, wenn es wirklich um die Wurst geht, da mache ich immer ernst. Schlage zu. Mit der Überlegenheit des Alters und der Weitsicht der Erfahrung. Lange Rede, kurzer Sinn oder to make a long Story short: Seit ich mit meinen Kindern seriös in spielerischen Auseinandersetzungen verschiedenster Art am Start bin, nehme ich so gut wie keine Rücksicht und praktiziere keine falsche Nachsicht. Weil ich der festen Überzeugung bin, dass das der richtige Weg ist. Denn die Kinder spüren sofort und ganz tief in sich, sobald jemand sie nicht völlig ernst nimmt. Sie nicht als seriöses Gegenüber ansieht. Und das kann nicht gut sein. Deshalb volle Kraft auf Sieg!
Volle Kraft auf Sieg, das ist meine Parole und Haltung in diesem Kontext. Darüber darf man gerne streiten, das kann jemand blöd finden, als nicht kinderfreundlich einstufen und entsprechend ganz anderer Meinung sein. Ich lasse mich aber in meinen Handlungen nicht beirren. Tipp-Kick, Tischfußball, Tischtennis, Wettschwimmen oder Elfmeterschießen im Wohnzimmer oder am Strand. Wenn mich jemand aus meiner Familie schlägt, dann soll sie oder er es tunlichst aus eigener Kraft, Energie und Talent schaffen. Und nicht, weil ich nur so tue, als ob. Alles andere ist überheblich, arrogant und blöd. Ich wollte in den letzten Tagen, mein Sohn hätte meine Haltung und Sichtweise schnurstracks übernommen. Stattdessen arbeite ich mich mit meinen dicken Fingern über die Knöpfe seiner Switch, versuche halbwegs Kurs gegen sein Feuerwerk an Fußballkünsten zu halten, derweil er eben so tut als ob. Es ist eine neue Erfahrung für mich. Und sie macht etwas mit mir!
Denn ich bin mir sicher, dass in jeder Sekunde von allen Spielen von „FC25“ mein achtjähriger Sohn mir gnadenlos das Fell über die Ohren ziehen würde. Wenn er denn nur einmal komplett und zielstrebig ernst machen würde. Er sieht und erkennt meine Mühen und meine Begrenztheit. Er weiß um meine Schwächen. Wie bereits beschrieben: Meine Finger sind viel zu dick und ungelenk für die Tastaturen der Firma Nintendo, mein Hirn ist viel zu langsam für ein gedankenschnelles Umschalten. Ich war in meinem Leben nie ein Gamer, da gibt es nichts, woran ich anknüpfen könnte. Ein bisschen Decathlon bei Freunden auf ihrem Commodore in der 80ern und einige Jahre Tetris und Super-Mario auf dem Game-Boy. Das wars. Jetzt dampft mein Hirn. Oben rechts zum Sprinten, Taste X für Schießen, die gegenüberliegende Taste für Flanken, bin ich in der Defensive, ist das aber wiederum die Taste fürs Grätschen. Ich empfinde das alles als sehr kompliziert. Entsprechend starte ich weitestgehend sinnfreie Sololäufe mitten in seine Abwehr hinein, dafür brauche ich nur eine Taste, schieße viel zu früh und meine Flanken gehen ins Leere.
Doch mein Sohn zeigt permanent Nachsicht und Rücksicht. Er lässt mich kurz vor Schlusspfiff noch ausgleichen, nur damit ich das Gefühl habe, ich könne ihn vielleicht im Elfmeterschießen noch bezwingen. In jeder Sekunde spüre ich, dass er nicht durchzieht. Er dreht vom Tor ab, spielt sinnfreie Stafetten und lässt mich völlig bewusst in seinen Strafraum passieren. Das ist demütigend und genau damit das Gefühl, dass ich sowohl Hanni als auch ihm immer ersparen wollte. Er behauptet, er würde mit voller Konzentration und Ernsthaftigkeit die Matches durchziehen. Das ist in meinen Augen ein blanker Witz. Er will mich schlichtweg nicht bloßstellen. Ich glaube, er denkt, dass sich so etwas nicht gehört. Oder es würde etwas in mir anrichten. Also zieht er zurück, versucht nur noch Tore des Jahres zu erzielen und drückt einfach mal absichtlich eine falsche Taste. Dabei bewegt genau das etwas Unangenehmes in mir. Ich fühle mich von meinem gerade mal achtjährigen Sohn übelst vorgeführt und mehr als nur ein ganz klein wenig verarscht.
Meine Switch-Mannschaft ist mittlerweile nur noch der FC Aberdeen. Denn ich finde diese Truppe passt zu meiner Art, wie ich die Konsole bearbeite. Schottisch-roh, etwas unbeholfen, aber mit viel Herz. Außerdem war ich beim Gastspiel der Eintracht in Aberdeen und habe mich in diese dort in Stein gegossene Ursprünglichkeit eines Fußballstadions mit dazugehöriger Spielweise verliebt. Nur diese Konstellation lässt es mich ertragen, dass mich mein Sohn Spiel für Spiel vorführt. Und zwar nicht mit einem 5:0, sondern mit einem 2:1 in der 93. Minute. Spielen wir nach 18 Uhr mache ich mir ab und an sogar ein Bier dazu auf, dann lässt es sich einfach besser ertragen.
Ich weise ihn mehrfach darauf hin, er möge mich als seriösen Gegner betrachten, provoziere ihn mit lauten „This is Scotland“-Rufen, um ihn aus seiner selbstgerechten Haltung zu holen. Es hilft alles nichts. Er macht immer weiter. Ich versuche es irgendwie wie ein Braveheart zu nehmen. So müssen sich die Gegner von Muhammad Ali gefühlt haben. Ich sehe nur noch eine Chance: Warten, bis wir wieder am Tischkicker stehen! Vielleicht versteht er dann mein Leid und meinen gebrochenen Stolz. Mit 10:1 schieße ich ihn aus dem Keller. Zieh dich warm an, Sohnemann!
Bruno und ich hören: Trend „Vier“ (Same Same But Different/Warner)