Ich bin in diese Situation nicht naiv geraten. Bei Weitem nicht. Ganz im Gegenteil. Ich wusste ganz genau, was uns an dieser Stelle erwartet. Meine Tochter durchlief bereits die Gesänge, Schlachtrufe und Schmählieder. Nur kam sie – irgendwie – unbeschadet durch diese Sache. Während ich wiederum ohne größere Nachfragen den schlanken Fuß aus dieser Nummer fand. Bei meinem Sohn ist es anders. Befürchte ich.
„Papa?“, „Ja Bruno?“, „Was ist ein Hurensohn?“. „Burensohn, mein Junge, nicht Hurensohn. Burensohn. Da hast du dich verhört!“. Mein Freund Markus stimmt mir zu. Und hilft in dieser wichtigen Situation sofort mit. Er ist ein guter Freund. Er erzählt in aller Kürze und inmitten des lauten Getöses die Geschichte der Buren in Südafrika und versucht zu erläutern, warum der Schiedsrichter nach der vermeintlichen Fehlentscheidung nach Ansicht der Zuschauer jetzt eben ein Sohn dieser Buren sei. Allein die lachenden Menschen um uns herum wecken zeitnah das Gefühl in mir, dass Bruno unseren Stories nicht ganz Glauben schenken wird.
Wir stehen in Block 42 im Waldstadion. Wenn jemand einen Radikaleinstiegskurs für alle erdenklichen Beschimpfungen für seine Kinder sucht, dem empfehle ich einen Stehplatzbesuch der Eintracht. Spieltag völlig egal. Und wer diese Beiträge mit seinen Kindern liest oder zartbesaitet ist, soll besser schnell aufhören. Oder zumindest die Kinder auf ihre Zimmer schicken. Spätestens ab hier beginnt die Kinderfreie-Beitragszone. Denn mindestens zweimal im Spiel ist der Schiedsrichter ein Hurensohn. Was allerdings eine der geringeren Herausforderungen in Sachen Erklärung darstellt. Mit dem Burensohn kommt man da schon recht weit, alternativ geht auch Uhrensohn. Das wollten wir auch erst heranziehen, leider fällt mir gerade nicht mehr ein, welche hanebüchenen Zusammenhänge zu den Übeln des Sohnes eines Uhrmachers wir gezogen haben. Es ist die Fülle an Beleidigungen. Ein wilder Parforceritt durch die Niederungen der Schmähgesänge und verbotenen Themen. Geschwisterliebe, Prostitution, eklige Mahlzeiten und Androhung reinster Gewalt bis hin zum Totschlag. Mir bewusst, das liest sich für den oder die ein oder andere furchtbar. Aber verflixt. Es ist die Stehkurve eines Bundesligisten, der seit jeher für eine besonders robuste Art des Fantums steht.
Ich will noch einmal untermauern, was ich an früherer Stelle bereits klar gesagt habe: Ich erwarte von der Fankurve zu keiner Sekunde eine erhöhte Rücksichtnahme auf Kinder, was die geschrienen oder gesungenen Inhalte betrifft. Im Gegenteil. Ich erwarte nur, dass sie einen Platz auf dem Wellenbrecher für Bruno räumen und von den ganz Großen, dass sie Hanni eine Stufe nach oben lassen, damit sie freie Sicht aufs Geschehen hat. Ende meiner Bitten. Die Kurve ist ansonsten die Kurve und die allermeisten Sachen, die dort zum Besten gegeben werden, haben in der Regel keine weitere Tragweite in der Welt außerhalb des Stadions. Ok. Ziehen wir nochmal einen Kreis mit Radius zwei Kilometer um die Spielstätte herum. Dann ist aber alles wieder gut. Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Und wäre mein Wunsch an die Rahmenbedingungen ein anderer gewesen, hätte ich mich eben um ausreichend Plätze im Langnese-Familien-Block bemühen müssen. Wenn Langnese überhaupt noch der Sponsor ist. Siehstemal Lumpi, so wenig habe ich mich darum gekümmert.
Für meine Kinder wollte ich dagegen von Beginn an das reinste aller möglichen Stadiongefühle. Mitten in das pulsierende Herz. Dorthin, wo all die Körpermenschen stehen, die sich die Seele aus dem Leib brüllen, mit Bier werfen, wahnsinnige Choreos über die Köpfe ziehen und im Zweifel Pyro zünden. Und sie danken es mir bis heute. Also meine Kinder, nicht die Körpermenschen. Bruno grinsend und singend auf der Stange sitzend oder die Fäuste auf dem Zaun schwingend. Mehr Fußballerlebnis geht für einen Achtjährigen kaum. Meiner Ansicht nach zumindest. Ich hatte diese Erlebnisse auch. Nur bei Viktoria Aschaffenburg, Oberliga Hessen. Doch das hier ist die Eintracht, Fußball-Bundesliga, Europa-League. Mein Radomir Dubovina ist sein Hugo Ekitiké.
Dafür muss ich jetzt Erklärungen finden. Für ein herzhaftes „Steh auf, du Sau!“. Oder ein „Wenn wir wollen, schlagen wir euch tot!“. Was ja – äh … mehr oder weniger – nur symbolisch gemeint ist. Also der angedrohte Totschlag. Aber ich muss es ja einordnen, in seiner kindlichen Welt. Schließlich will ich auch nicht, dass Bruno in der Grundschule die Dinge auf diese Art klärt. Ein schmaler Grat auf dem ich hier laufe. Erst kürzlich dachte ich bei mir, die Gesänge würden wieder mehr an Härte gewinnen. Vielleicht höre ich plötzlich aber auch nur aufmerksamer zu. Doch den Ruf „Eure Mütter schaffen für uns an“ – sicherlich auch keiner der politisch-korrekteren Fangesänge – hatte ich wirklich schon lange nicht mehr im Ohr. Oder schlichtweg verdrängt.
Was freue ich mich da bereits über ein altbekanntes „Fußball-Mafia DFB“. Die gute alte Mafia, ein herrlich bespieltes Motiv für Korruption. Ich hole erfreut Luft und entspanne bei dem schwungvollen „Erste Runde Mailand, zweite Runde Wien“, denn wer „Saddam Hussein“ war – den es aus Eintracht-Sicht zu befreien gilt – spielt zumindest in der laufenden Saison überhaupt keine Rolle mehr. Denn wir „fahren Fahrrad wie Erik Zabel“ und außerdem spielen wir international, der OFC fährt eben nur nach Baunatal. Ein „Wir sind aus Frankfurt, wir sind aus Hessen. Und was wir scheißen, müsst ihr fressen“ ist nicht sonderlich appetitlich, gehört aber mittlerweile zum Standard. Mund abputzen. Weitersingen. Das ist mittlerweile mein geringstes Problem. Denn kaum haben wir den Burensohn als Erklärung zu Ende geführt, brettert bereits der nächste Ruf über unsere Köpfe: „Eure Eltern sind Geschwister!“. Puh. Wie erläutere ich das jetzt nochmal vernünftig. „Ach Bruno, genug erklärt jetzt! Konzentrieren wir uns besser mal wieder aufs Spiel! Auf geht’s Eintracht, schieß ein Tor!“
Bruno und ich hören: Helmet „Betty“ (Interscope)