Als die Turmuhr Zehn schlägt, täusche ich die versammelte Runde. Ich sitze in einer Videokonferenz mit einem überschaubaren Haufen von Geschäftsführungen zusammen und sage, ich müsse kurz aus unserem Kreis auschecken. Genauer sage ich, ich hätte noch einen anderen wichtigen digitalen Termin und wäre in spätestens zehn Minuten wieder zurück. Noch während ich es sage, fällt mir auf, wie saublöd das klingt. Ein anderer wichtiger digitaler Termin. So einen Quatsch habe ich seit Corona nicht mehr gehört. Da wäre ja ein dringender Klobesuch überzeugender. Aber gut. Mir ist schlichtweg nicht Schlaueres eingefallen, jetzt war es gesprochenes Wort und Klick bin ich auch schon raus. Ich muss mich nämlich ganz schnell bei Adidas einloggen, denn um Punkt zehn Uhr startet ein sogenannter „First Drop“ für das Schuhmodell „Campus“ in der Farbe Schwarz. Ich vermute ein „First Drop“ ist so etwas wie eine Warteliste. Nur anders. So ganz genau weiß ich es gar nicht.
Falls ich in dieser Reihe doch darauf hinweisen muss: Ich mache das nicht aus Eigeninteresse. Natürlich nicht. Nichts weniger als das Seelenheil meiner Tochter hängt davon ab. Zumindest vermittelt sie mir das Gefühl. Ihr größter Wunsch: Der Adidas „Campus“ in Schwarz. Wenn sie den hätte, wäre vielleicht noch nicht alles, aber schon recht vieles richtig gut. Vor allem in Sachen Style. Nur: Der „Campus“ in der Farbe Schwarz ist derzeit in ihrer Größe wohl so heißer Scheiß, dass Adidas einen „First Drop“ für all diejenigen, die bislang leer ausgegangen sind, konstruiert hat. Jetzt muss ich ran, denn Auszeiten für „First Drops“ sind im deutschen Schulsystem nicht vorgesehen und meine Tochter ist schlichtweg zwar noch nicht zu jung für Style wohl aber für „First Drops“, Wartelisten und Kaufgeschäfte dieser Art.
Ich glaube im Übrigen nicht daran, dass es für den Schuh Campus in der Farbe Schwarz einen „First Drop“ oder eine Warteliste braucht und das, obwohl ich den Adidas „Campus“ selbst im Schrank habe. Wohlgemerkt in der klassischen Ausgabe und in der Farbe Blau. Zugegeben etwas ausgelatscht. Der Campus hat seinen Ursprung bereits in den 70ern, wurde unter anderem durch die Beastie Boys so richtig bekannt und bekam hier seine große Bedeutung für den Hip-Hop. Ein generationenübergreifender Klassiker bislang, über mehrere Jahrgänge in den Schuhregalen dieser Welt. Und ausgelatscht – in meiner Welt zumindest – besonders gut. Ich wüsste nicht, dass es in den 50 Jahren vorher jemals einen „First Drop“ für diesen Schuh gegeben hat. Vielleicht war er mal kurz ausverkauft. Aber zeitnah immer wieder im Regal. Wie ein Leib Brot. So ändern sich die Zeiten.
Seit kurzem hat Adidas das Modell „Campus“ wie auch das Modell Gazelle einem Relaunch unterzogen. Zur Freude meiner Tochter. Und zum Unmut auf meiner Seite. Diese Überarbeitung ist aus meiner Sicht völlig ohne Not. Denn jetzt falle ich als Zielgruppe aus dem Radar, denn der neue Stil taugt nicht mehr wirklich für Menschen, die bereits die 50 hinter sich gelassen haben. Da können sie noch so viel Beastie Boys im Alter hören. Aber was will ich mich beschweren, ich bin in dieser Sache nicht mehr wirklich relevant. Ich kaufe mir wahrscheinlich kein Paar neue Campus mehr im Leben, entsprechend kann Adidas an mir auch keine goldenen Löffel verdienen. Allerdings mit meiner Tochter. Das ist der Lauf der Dinge und der Marktwirtschaft.
Während meine Tochter und ich beim Adidas „Campus“ geschmacklich noch relativ nah beieinander liegen, merke ich doch an anderer Stelle, wie sehr sich mittlerweile unser Geschmack in Sachen Mode und Stil auseinanderentwickeln. Das liegt, vermute ich messerscharf, an meinem Alter. Ich muss an dieser Stelle einmal ausdrücklich betonen: Ich mag meinen persönlichen Stil und Dresscode sehr gerne. Denn mir ist gute Kleidung durchaus wichtig. Sie muss das Zeug zum Klassiker haben, entsprechend darf sie auch für 30-Jährige taugen, aber sie darf für Männer wie mich auch nicht gezwungen jugendlich sein. Dress your fucking Age! So ein bisschen wie der alte „Campus“ eben. Klassiker never goes out of Style! Geht es jedoch nach meiner Tochter dürfte ich schon einmal mehr Mut zu anderen Schnitten und Teilen haben. „Papa! Trag doch mal eine Baggy. Oder wenigstens so ein weites Sweatshirt“, raunte sie mir kürzlich zu. Und sie meinte es ernst. Jetzt stell sich einer mal vor, ich würde montags in einer Baggy samt weitem Sweatshirt im Büro einlaufen. Na, da wäre was los. Am Ende noch eine Baggy mit einem leichten Schlag. Und dazu noch ein Paar „Campus“. Selbstverständlich in Schwarz.
Das mit dem „First Drop“ hat leider nicht geklappt. Ich war wohl nicht First genug. Oder habe den Drop verpasst. Auf jeden Fall flog ich aus mir nicht erfindlichen Gründen raus. Der „First Drop“ heute funktioniert anscheinend anders als die Wartelisten meiner Jugend. Befürchte ich. Aber es war auch kein größeres Drama, denn drei Tage später war das Modell „Campus“ in der gewünschten Farbe und Größe meiner Tochter über völlig normale Versandwege wieder erhältlich. So viel zur Notwendigkeit eines „First Drops“ und meiner fadenscheinigen Ausrede. Ich wusste es doch gleich. Und überhaupt: Der schwarze Schuh sollte es schlussendlich eh nicht sein. Der Graue ist viel besser. Den es sogar – völlig Old School – im Geschäft zu kaufen gab. Ich sage es euch allen. Irgendwann läuft doch alles wieder auf mein Modell raus. Blau, ohne fette Zunge und mit ganz normalen Schnürsenkeln. Wartet nur ab.
Bruno und ich hören Ween „The Mollusk“ (Elektra Records)