© Ralph Rußmann
Ralphs Corner_#12 Pyrit
„Haben Sie noch Pyrit zuhause?“. Fragt uns unsere Hausärztin, denn Bruno ist krank. Meine Frau meint „Ja, haben wir“. Ich sage nichts. Ich habe nämlich den Überblick verloren. Eigentlich hatte ich nie einen. Wir fahren zurück. Ohne Rezept für Pyrit. Zuhause angekommen, hole ich den großen Kasten raus und schaue nach. Da ist einiges drin, vielleicht ja auch Pyrit. Und bevor ich richtig loslege, empfehle ich jeder Leserin und jedem Leser, sich einen Kaffee, Tee oder besser noch einen Schnaps zu holen, denn es erfordert vom Laien höchstmögliche Konzentration, möglicherweise tauchen auch Ermüdungserscheinungen auf.
Wir haben: Gleich zweimal Apis/Belladonna cum Mercurio, nicht zu verwechseln mit den sortenreinen Apis Belladonna Globuli velati. Die finde ich auch. Dazu – auch in doppelter Ausführung Silicea compositum. Und gleich dreimal Myristica sebifera compositum. Weiter geht es mit Nux vomica e semine und – was kostet die Welt – wieder im Trio Nux vomica/ Nicotiana. Aufgepasst, das erste war semine, das zweite Nicotiana. Dann natürlich Arnica, aber auch Gelsemium compositum und Gentiana Magen Globuli velati. Als doppeltes Lottchen Arsenicum album, in einmaliger Version jeweils Urtica compositum, Sambucus compositum., Meteoreisen Globuli velati und jeweils wieder zweimal Bryonica/Aconitum Globuli velati, Petasites compositum, Larynx/ Apis compositum. In unserer Kiste darf natürlich auch nicht fehlen Bronchi Plantago, Lachesis compositum, Apis Levisticum, Prunuseisen, Agropyron , Berberis/Quarz, Chamomilla Cupro culta Radix, Chamomilla, Echinacea/Argentum, Belladonna (ohne Apis), Staphisagria, Cichorium Plumbo cultum, die guten Cantharsis Blasen Globuli, Coralium rubrum, Quarz, Marum verum. Na, schon angetrunken? Bin noch nicht fertig. Zweimal Tartarus stibiatus compositum und dreimal Infludoron, obendrauf einmal jeweils Erysidoron und den Klassiker Olivenit. Mist. Leider kein Pyrit.
Eine Chance gibt es noch, denn da steht ein weiterer Schuhkarton. Dort finde ich viel Schulmedizin, aber auch Thuja-Essenz, Sambucus/ Teucrium compositum, Pertudoron 1 und Pertudoron 2 und – na also – Pyrit. Aber Pyrit/ Zinnober. Verdammt. Ist das auch ok? Bei einem zehn Monate alten Kind? Ich sage höchstens „Mach mal nicht so einen Zinnober!“. Jetzt weiß ich zumindest, woher es kommt. Was es bewirkt, habe ich leider nicht den geringsten Schimmer. Meine Frau meint „Bestimmt geht das“ und googelt gleich mal munter drauflos. Ich traue dem Braten nicht, rufe in der Praxis an und hole das Rezept. Jetzt haben wir auch Pyrit. Ich gehe kein Risiko ein. Auf eines mehr oder weniger kommt es nicht mehr an.
Fürs Protokoll. Das sind über 40 verschiedene homöopathische Mittel in unserem Besitz. Insgesamt 53 Globuli-Gläschen, Essenzen, Tabletten, Pulver. Mit jedem Arztbesuch werden es mehr und bei jeder zweiten Stippvisite kommt die Ärztin mit einer Substanz um die Ecke, von der ich meinen Lebtag noch nie zuvor etwas hörte. Ich könnte als Handelsreisender für die Firmen WALA oder Weleda tätig sein, wenn nur ein Problem nicht wäre: Bei gerade einmal sechs der Aufgezählten weiß ich ungefähr, bei welchen Krankheiten sie zum Einsatz kommen. Und das auch nur, weil sie aus akuten Gründen gerade bei unseren Kindern gebraucht werden. Ich habe keine Ahnung, was das alles ist und ich bräuchte jedes Mal einen dreiviertel Tag, bis ich mich durch die ganzen Beschreibungen und Hinweise gearbeitet habe. Dazu kommt entscheidend: Ich habe keine Ausbildung zum Heilpraktiker, Latein oder Griechisch stand nicht auf meinem Stundenplan und merken kann ich mir ohne Zettel ebenfalls nicht mehr so viel. Bin ich alleine mit Hanni oder Bruno beim Arzt und werde beispielsweise gefragt „Haben sie noch Silicea compositum?“, sage ich grundsätzlich immer „Nein. Bitte aufschreiben.“ Jetzt haben wir vieles auch doppelt und dreifach. Besser so, als anders. Sage ich.
Seit unsere Tochter auf der Welt ist, vertrauen wir immer erst einmal dem homöopathischen Ansatz. Bislang mit Erfolg. Während ich das schreibe, klopfe ich dreimal auf Holz. Zur Sicherheit. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, das macht Sinn. Selbstheilungskräfte stärken und so. Sie wissen schon. Bei uns Erwachsenen ist meist eh schon Hopfen und Malz verloren. Wenngleich selbst mein Vater schon immer gesagt hat: „Sohnemann Ralph, viel trinken, Bettruhe und ordentlich schwitzen. Ich mach Dir mal ein warmes Bier, das treibt den Virus raus.“ Das warme Bier hat immer geholfen und ist ja auch eine Art Homöopathie. Wahrscheinlich würde das auch unsere Ärztin sagen, wenn Bruno und Hanni schon Bier trinken dürften. Denn es gilt festzuhalten: Wir haben Glück mit unserer Hausärztin. Sie macht tolle Diagnosen, ist entspannt, nimmt Sorgen und findet die passenden Ansagen von „Jetzt wird’s ernst, bitte nehmen sie Antibiotika“ und „Bleiben sie ruhig, der zahnt nur“. Das ist die Radiowelle, die uns gefällt.
Denn ich glaube daran, dass ein Kind durchaus mal eine Idee länger fiebern und zunächst selbst mal versuchen sollte, die Viren in die Flucht zu schlagen. Ich glaube auch, dass bei unter dreijährigen Kindern über die ein oder andere Impfentscheidung durchaus nachgedacht werden darf, ohne dass die Eltern gleich geteert und gefedert aus dem Ort gejagt werden. Ich glaube allerdings auch, dass es völlig in Ordnung ist zu impfen, wenn Eltern damit ein besseres Gefühl haben. Ich glaube an die Wunderwaffe Zwiebel, an die Kraft der Bettruhe und das Heilbringende eines wohltemperierten Bieres. Und ich bin auch der Überzeugung, dass ab einem gewissen Punkt nur noch Antibiotika helfen und verabreicht werden müssen. Außerdem glaube ich, dass Erwachsene in vielen Fällen durchaus einmal weniger zum Arzt gehen brauchen, Kinder aber besser einmal mehr.
In meinen dunklen Stunden befürchte ich allerdings ebenfalls, dass es der Zucker auf den Globuli ist, der den Kindern ein gutes Gefühl gibt und es ihnen nur deshalb besser geht. Koks für den Nachwuchs eben. Ich glaube, befürchte, aber eines weiß ich sicher: Niemand ohne Ausbildung zum Heilpraktiker oder Medizinstudium blickt bei 43 homöopathischen Döschen noch durch und kann mir sagen ob Arsenicum album gegen Durchfall wirkt oder nur zum Vergiften der Erbtante taugt. Ich kenne wirklich keinen, der sich in unserem Schuhkarton noch zurechtfindet. Ohne Studium, Glossar und Handbuch.
Bruno und ich hören: Kettcar „Du und wieviel von Deinen Freunden“ (Grand Hotel Van Cleef)