© Ralph Rußmann
Ralphs Corner_#32 Hunger
Es ist nicht so lange her, da kochte ich in der Früh um sieben Nudeln für einen Nudelsalat. Es war Sonntag und wir waren später am Tag noch auf einem Geburtstagsbrunch eingeladen. Da Bruno ab kurz nach sechs die Rakete zündet, dachte ich, können wir das auch schon einmal erledigen. Bruno hatte gerade seine erste üppige Milchmahlzeit hinter sich, entsprechend gemütlich war die Stimmung. Doch der dampfende Kessel brachte sein Gemüt gleich nochmal in Wallung. Von Sonntagsruhe war fortan nichts mehr zu spüren. Bruno hat immer Hunger. Eigentlich kenne ich ihn gar nicht richtig satt. Egal wann, egal wo. Jetzt wurde ich aber doch etwas skeptisch. Ok. Er arbeitet viel. Den ganzen Tag räumen, Treppen steigen, Couch rauf, Couch runter. Da muss Einiges verbrannt werden. Dafür steht er grundsätzlich schon einmal gut im Futter. Als er um 7.30 Uhr Appetit auf die erste warme Mahlzeit des Tages bekam, wurde mir allerdings ein bisschen mulmig. Hätten wir ihn nicht gestoppt, er hätte den ersten Topf davon gegessen. Ich wiederhole: Frühs um halb acht.
Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn in Frankfurt vermittelte ich Jugendliche in eine Ausbildungsstelle. Der Job führte mich auch zu zahllosen Praktikumsstellen. So landete ich morgens um neun unter anderem einmal bei einem Maler-Lackierer in einem Gewerbegebiet in Frankfurt-Rödelheim. Dessen serbischer oder kroatischer Mitarbeiter wollte mir um diese Zeit einen ersten Slibowitz anbieten. Er aß in der Frühstückspause dazu bereits ein halbes Hähnchen. „Nur mal lecken, Herr Rußmann“. Am Slibowitz, meinte er. Auch das lehnte ich freundlich ab. Ich war zu dieser Zeit noch nicht mal eine Stunde auf den Beinen. Das wäre eine Gesellschaft, die meinem Sohn gut gefallen würde. Halbe Hähnchen am Morgen. Um 9 Uhr. Ganz nach seinem Geschmack.
Bruno isst bei Leibe nicht alles. Was er nicht mag, spuckt er kurzerhand aus. Er macht das sehr konsequent. Aber das, was er mag, kann er kiloweise reinschieben. Tomaten, Frischkäse, Gouda am Stück, blanke Butter. Das geht immer. Wahrscheinlich auch in der Nacht um drei. Ich habe vor kurzem einmal ausgerechnet: An guten Tagen isst Bruno für drei Euro Cocktailtomaten. Fürs Protokoll: Am Tag. Das macht 90 Euro im Monat. Kindergeld bekommen wir 184 Euro. Nur mal so. Für alle die meinen, Eltern bekämen vom Staat zu viel Unterstützung. Ich beschwere mich nicht, ich will nur mal die Relation verdeutlichen. Er könnte ja auch Nordseekrabben als Leibspeise haben. Eben. Es geht immer toller. Vergangene Woche biss er vor lauter Hunger in einen Topf-Untersetzer aus Kork. Er dachte, es wäre eine große Scheibe Brot. Das ist meine Vermutung. Dann lieber bitte doch noch ein Kilo Tomaten, Herr Verkäufer!
„Ist doch schön, dass er so gut isst“. Ja, ja, ich freue mich auch und wie gesagt, ich beschwere mich nicht, ich stelle nur fest. Und ich glaube, wir sollten allesamt ein wenig ein wachsames Auge haben. Denn auch ich hatte als Kind eine Phase, in der ich sehr gerne aß. Dazu bekam ich von meiner Großmutter grundsätzlich einen Dany plus Sahne obendrauf und noch ordentlich Malzbier zum Runterspülen. Und siehe da, die Backen wurden runder und gemeinsam mit der ersten Brille nahm ich kurzzeitig eine sonderbare Kurve im Leben. Ich war drauf und dran neben Emil Beck der beste Werbepartner für Vitamalz zu werden. „Ohne Fleiß, kein Preis“ und so. Vom Fachmann für den Kenner eben. Bis irgendwann mein Vater ein Machtwort sprach. Da legte selbst er mal den Kochlöffel wahlweise Tennisschläger beiseite. Schluss war mit Kraftmalz und unzähligen gut geschmierten und mundgerechten Broten.
Jetzt stelle ich seit geraumer Zeit fest, dass es immer mehr dicke und ungelenke Kinder gibt. Am Kindergeburtstag meiner Tochter sollten die Gäste über Umzugskisten springen. Es war eines von mehreren Spielen und nur der Auftakt. Es können also noch keine Ermüdungserscheinungen existiert haben. Das erste Kind rannte gleich mitten rein, stieß sich das Knie, heulte gar jämmerlich und wollte am besten sofort alles abbrechen. Es wurde im weiteren Feier- und Spielverlauf bei einigen von ihnen nur unmerklich besser. Es ist mir mittlerweile eine Herzensangelegenheit, dass zumindest meine Kinder einigermaßen in Schuss durch das Leben wandern. Ich gab Bruno keine Nudeln mehr. Ich bekam dafür Wut und eine Form der Gewaltandrohung. Er konnte es nicht nachvollziehen und war richtig stinkig. Eines Tages wird er es mir aber danken. Von Herzen. Ich weiß es ganz sicher.
Bruno und ich hören: Sufjan Stevens „Carrie & Lowell“ (Asthmatic Kitty Records)