© Ralph Rußmann
Ralphs Corner_#37 The Walking Dead
Vor fünf Nächten hatte ich meinen persönlichen George A. Romero-Gedächtnis-Moment. Es war gegen halb vier und Bruno lag quer neben mir. Ich erinnerte mich noch dunkel, dass meine Frau ihn geraume Zeit vorher zu uns ins Bett geholt hatte, selbst aber selbiges wohl einen kurzen Moment später verlassen hatte. Weil Bruno und ich angeblich sofort gemeinsam so laut geschnarcht hätten, als hätten wir eine Packung Reval weggedampft. Ohne Filter. Letzteres hatte ich gar nicht mitbekommen. Also, dass meine Frau das Bett verlassen hat. Ich schlafe zur begrenzten Freude mancher Menschen in der Familie nämlich sehr fest. Zumindest in den kurzen zur Verfügung stehenden Intervallen. Reval haben wir übrigens nicht geraucht.
Ich wachte also auf und wollte Bruno ein wenig zu mir drehen. Da blickte er mich aus einem völlig blutverschmierten Gesicht an. Und wenn ich schreibe völlig blutverschmiert, dann meine ich auch völlig blutverschmiert. Stirn, Backen, Augen, Mund: Alles voller Blut. Schlafsack: Blutdurchtränkt. Dazu vor ihm eine Lache Blut. Ich wusste nicht, ob er jeden Moment nach mir schnappen und sich in mich verbeißen würde. Ob er am Ende bereits meine Frau totgebissen hatte. Aber sie war ja zumindest nicht mehr da. Anscheinend war sie mit dem Leben davon gekommen. Oder er hatte sie angebissen, sie konnte sich ins Bad retten, verwandelte sich justamente dort in eine lebende Leiche. Wie gesagt, es war gegen halb vier und ich schaute in das blutverschmierte Gesicht meines Sohnes.
Da ich Zack Snyders rasantes Remake von Dawn Of The Dead gut kenne, hatte ich durchaus eine Vorstellung wie schnell Zombies sein können. Bruno war augenscheinlich bei wachem Verstand, allerdings noch nicht sonderlich auf Geschwindigkeit, geschweige denn gereizt oder aggressiv. Vielleicht setzt die Wirkung erst später ein? Ich war unsicher und überlegte was zu tun sei. Was würde Rick Grimes wohl in solch einem Moment machen? Auge in Auge mit seinem Kind, das möglicherweise geradewegs zu einem lebenden Toten wurde. Aber vor allem: Wie konnte es dazu kommen? Ich hatte keine Vorstellung. Es war nichts in den Nachrichten zu hören, noch gab es Fälle in der Nachbarschaft. Aber irgendwo geht es ja immer los. Sekunden wurden zu Minuten und mit der Zeit arbeitete mein Hirn wieder in Normalfunktion. Ich rief lauthals nach meiner Frau. Besser mal zu zweit die Sache in Angriff nehmen.
Sie lebte und war gesund. Gemeinsam kamen wir der Sache relativ zügig auf den Grund. Bruno hatte Nasenbluten und das von der allerfeinsten und übelsten Sorte. Wir reinigten ihn gründlich, neuer Schlafanzug, neuer Schlafsack, wir überzogen das Bett frisch und legten uns wieder hin. Nachts um vier Uhr kann so was ja mal passieren und erledigt werden. Schlaf wird eh überbewertet. Das wirklich interessante an der Geschichte kommt jetzt aber noch. Denn es existieren zwei Varianten. Die meiner Frau und die meiner Erinnerung. Meine Erinnerung habe ich gerade zusammengefasst beschrieben. Ich konnte mich lediglich noch daran erinnern, dass Bruno einmal vorher weinte, ich im Halbschlaf bei ihm war und ihm den Schnuller gab. Dann war Ruhe.
Meine Frau erlebte die Nacht anders, denn sie hört nahezu alles. Manchmal ist sie sogar wach, bevor das eigentliche Geräusch kommt. Eine beängstigende Gabe, auf die ich gerne verzichte. Da ihr die Kontrollgänge mittlerweile zu viel werden, schickt sie dann mich. So wohl auch in dieser Nacht. Denn laut ihrer Aussage weckte sie mich bereits nach wenigen Stunden Schlaf und teilte mir mit, Bruno würde heulen. Aber ganz anders als sonst. Und außerdem hätte es vorher einen mächtigen Schlag getan. So als sei er geradewegs in seinem Bett umgefallen. Von diesem Gespräch wusste ich leider nichts. Obwohl ich angeblich reagiert habe. Ich wäre auch zu ihm ans Bett gewackelt – das dämmerte mir noch – hätte ihr nach meiner Rückkehr gesagt, alles sei ok und wäre sofort wieder ins Koma gefallen. Auch zu diesem Statusbericht aus dem Kinderzimmer fehlte mir jegliche Erinnerung. Kurze Zeit später weinte er dann wohl wieder – auch wieder Angabe meiner Frau – diesmal hätte sie übernommen und da bereits ein wenig Blut im Bett entdeckt. Sie weckte mich und erläuterte mir den Sachverhalt. Ich hatte auch hier keinen blassen Schimmer von was sie sprach. Angeblich wären wir hierzu sogar im Austausch gewesen, zumindest reagierte ich ihrer Wahrnehmung nach, nur um danach sofort wieder den Schlaf der Gerechten zu finden. Jetzt allerdings bereits mit Bruno an meiner Seite. Meine Frau machte kurze Zeit später dann den bereits eingangs erwähnten schlanken Fuß wegen unseres Schnarchens. Wie gesagt: Auch davon war überhaupt nichts in meinem Gedächtnis zu finden. Nada. Niente. Bis heute nicht. Bei mir setzte es erst wieder ein, als ich Bruno von der Horizontalen in die Vertikale befördern wollte.
So. Was ist jetzt die Moral von der Geschichte? Wenn der eigene Sohn einen mitten in der Nacht blutverschmiert entgegen grinst? Besser mal eine Spur langsamer drehen und nicht gleich unkontrolliert auf Oscar Pistorius oder John Sinclair machen. Dazu kommt: Männer und Frauen erleben die gleiche Geschichte völlig anders. Die letzte Facette ist jedoch: Wer das hier liest und noch keine Kinder hat, dafür jedoch feste Absichten im Herzen trägt, dem sei freundschaftlich gesagt: Schlafe jetzt noch lang und fest! Acht Stunden am Stück werden so selten, wie Schneefall zu Heiligabend. Mache sich ein jeder auf Begegnungen der dritten Art gefasst. Herausgeholt aus der Mitte des Tiefschlafs. Auf Schockmomente, die allenfalls aus dem Kino bekannt sind.
Bruno und ich hören: Bloc Party „Silent Alarm“ (V2 Records)