Eines ist klar, übersehen kann man dieses monströse Musikinstrument definitiv nicht. Wenn man die Schreinerei in Kleinwallstadt betritt, die Instrumentenbauer Wolfgang „Flip“ Staab über die Jahre hinweg zur kombinierten Wohn- und Arbeitsstätte ausgebaut hat, steht er am Ende der großen, lichtdurchfluteten Eingangshalle auf einem bühnenähnlichen Podest und wacht geradezu majestätisch über die Location: der Oktobass.
Eine weltweite Rarität
Seit 2018, also sieben Jahre, hat Flip an diesem außergewöhnlichen Instrument gebaut – dem zweiten, nahezu vier Meter großen Riesen, der durch seine meisterlichen Hände entstanden ist. Der erste war eine Auftragsarbeit für ein norwegisches Orchester und wurde im Jahr 2013 nach 13 Monaten Bauzeit übergeben. Warum der Zweite nun so lange gedauert hat? Den aktuellen Oktobass hat er für sich selbst gebaut, hatte dementsprechend keinen Zeitdruck und zudem ja auch noch eine ganze Menge anderer Aufträge zu erledigen. Denn Flip Staab zählt zu den renommiertesten Restauratoren von Kontrabässen Europas und bedient dementsprechend einen Kundenstamm, der von allen Ecken des Kontinents aus auf seine Expertise vertraut. Doch zurück zu dem hölzernen Tieftöner, von dem es aktuell noch gerade mal etwa zehn weitere Exemplare auf der gesamten Welt gibt. Was ist das Geheimnis hinter dem überdimensionalen Kontrabass, der allein schon aufgrund seiner Höhe von fast vier Metern ohne ein passendes Stehpult, einen passenden Bogen und eine speziell entwickelte Mechanik gar nicht zu bespielen ist? Dazu müssen wir einen kleinen Schlenker in die jüngere Geschichte des Instrumentenbaus unternehmen, inklusive einiger beeindruckender Tatsachen und unerwarteter Funfacts.
© Wolfgang „Flip“ Staab
Oktobass
Von Paris bis Kleinwallstadt: Tiefer geht’s nicht!
Die ersten drei Oktobässe überhaupt wurden der Öffentlichkeit im Rahmen der Weltausstellung in Paris 1850 vom Geigenbauer Jean-Baptiste Vuillaume präsentiert. Den Impuls für die Entwicklung und den Bau der ersten Oktobässe gab Hector Berlioz. Der Komponist hatte den Wunsch, für sein neues Werk im Orchester auf ein weiteres Bassregister zurückgreifen zu können. Das Ergebnis ist ein wahres Monstrum von Instrument, das mit einer Höhe von fast vier Metern und den entsprechenden Korpusausmaßen in der Lage ist, Tieftöne zu erzeugen, die bis in den Infraschallbereich gehen. Konkret bedeutet das im Fall von Flips Oktobass, Achtung Funfact: In der aktuellen Stimmung kann der Riese ein Subkontra-C zur Welt bringen, also den tiefsten Ton einer Kirchenorgel. Da dieser bei 16 Hz liegt, benötigt es einen Raum von mindestens 20 Metern Länge, um diesen Ton überhaupt hörbar zu machen. Zudem kommt der Oktobass mit drei Saiten aus, aufgrund seiner Größe wären vier Saiten mit dem Bogen nämlich gar nicht zu bespielen.
Der Oktobass-Spieler: Trotz Podest nicht groß genug.
Wenn man Bilder von Personen sieht, die den Oktobass spielen, traut man seinen Augen kaum: Der jeweilige Virtuose steht auf einem speziellen Podest neben dem riesigen Instrument – und hat trotzdem keine Möglichkeit, die Saiten wie beispielsweise bei einem Kontrabass mit den Fingern der linken Hand auf dem Hals des Basses herunterzudrücken. Um dem Oktobass gleichwohl die gewünschten Töne entlocken zu können, ist am oberen Ende des Korpus eine spezielle Mechanik verbaut, mittels derer der Spielende an verschiedenen Positionen auf dem Hals Querriegel herunterdrücken kann, vergleichbar etwa mit einem Kapodaster bei einer Gitarre. Dies ersetzt die von Hand gedrückte Saite. Dieses Hilfsmittel gab es in einer Grundform bereits bei den ersten Oktobässen 1850, wenngleich nicht überliefert ist, ob diese von Anfang an verbaut waren oder erst nachträglich hinzugefügt wurden. Für sein neues Werk hat Flip diese Mechanik nochmals verfeinert, extrem belastbar und vor allem absolut geräuschfrei gemacht. Kein Klappern, kein Quietschen und keine Bewegungsgeräusche stören den bombastischen Klang und das restliche Orchester.
© Till Benzin
Oktabass
Die Schablone macht die Form, das Holz den Klang
Und wo wir gerade schon beim Stichwort sind: Der Klang eines jeden akustischen Saiteninstruments speist sich zum allergrößten Teil aus drei Faktoren. Zum einen die spielerische Fähigkeit des Instrumentalisten. Zum zweiten die handwerkliche Verarbeitung des Instruments und zum dritten die verwendeten Hölzer. Und naturgemäß hat Flip gerade auf die letzten beiden den nötigen Einfluss, um das Maximum herauszuholen. Bei der handwerklichen Verarbeitung kam ihm nicht nur seine jahrzehntelange Erfahrung als international renommierter Instrumentenbauer und -restaurator in den Bereichen E-Bass und Kontrabass zugute, sondern auch die individuell handgefertigten Schablonen, die er für den Bau seines ersten Oktobasses 2013 angefertigt hatte. Mithilfe ebendieser werden beispielsweise die seitlichen Korpuszargen, die in diesem Fall aus dem besonders gut geeigneten Holz der Esche bestehen, unter Einsatz von Wärmematten gebogen und angepasst. Bei den beiden Decken des Instruments ist es wiederum besonders wichtig, dass das Holz neben seinen klanglichen und verarbeitungstechnischen Attributen schon so weit abgelagert ist, dass es auf wechselnde Einflüsse wie Temperatur oder Feuchtigkeit nicht mit „Arbeit“ reagiert. Hier wurde Flip bei einem österreichischen Altholzhändler fündig, der ihm nach viel Überredungskunst ein paar 100 Jahre alte und über zehn Zentimeter dicke Fichtenbohlen überließ, die zuvor in einem Bauernhaus verbaut waren. Aus ihnen hobelte Flip millimeterweise die gebogenen Decken des Oktobasses heraus. Der Rest sind Aberhunderte von Stunden feinster Handwerkskunst, um aus handgefertigten Einzelteilen ein Instrument zu erschaffen. Und weil Flip diesmal keinen Zeitdruck hatte, fand er sogar die Muße, sich an komplett handgefertigten Hals-Intarsien zu verkünsteln.
Zur Premiere gleich schon TV-Star
Nun ist der Oktobass also fertig und bereit für Einsätze. Für den Transport lässt sich der Hals vom Korpus trennen, sodass der Bass gerade so in einen VW-Bus passt. Am Einsatzort wird er wieder zusammengesetzt, besaitet, gestimmt und ist innerhalb weniger Stunden spielfertig. Seine Premiere feierte er dieses Jahr zur Eröffnung des internationalen Rheingau-Musik-Festivals in den Reihen des hr-Sinfonieorchesters inklusive TV-Übertragung. Der Bassist des Klangkörpers benötigte im Vorfeld übrigens lediglich zwei Sessions in Flips Werkstatt, um sich mit Spieltechnik und Halsmechaniken vertraut zu machen. Auch im aktuellen Video von Boppin’B „Big Bass Boogie“ spielt der sanfte Riese eine Hauptrolle. Die nächsten Einsätze sind bereits in Planung, doch bis diese Realität werden, steht der Oktobass in Kleinwallstadt und wacht über das, was sich in Flips Bassmanufaktur sonst noch so zuträgt …
